1. Menschlichkeit

Selten wird in Diskursen über gewaltlosen Widerstand der Begriff ‘Menschlichkeit‘ thematisiert oder gar problematisiert. Der oder die gewaltlos eingestellte Widerstandskämpfer/in appelliere an die ‘Menschlichkeit‘ des Angreifers. Auf diese Weise solle er/sie versuchen, im Gegenüber diese verbindende und verbindliche Basis anzusprechen. ‘Entmenschlichung‘ wird in Diskursen über Gewaltlosigkeit hingegen immer als Vorstufe zur Gewalt aufgefasst. Es ist nicht einfach die Unmenschlichkeit selbst, die Menschen zu Feinden werden lässt. Vielmehr ist es die Annahme oder die Behauptung, dass es dem/der Anderen an Menschlichkeit fehlt.

Der Mensch als Wolf?

Der lateinische Spruch ‘homo homini lupus‘ stammt ursprünglich aus der Komödie ‘Asinaria‘ (‘Eseleien‘) des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus. Doch der Satz, auf den sich Thomas Hobbes bezieht, weist hier eine wichtige Ergänzung auf, die nicht oft erwähnt wird. ‘Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen‘, ‘solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist‘. Man könnte auch sagen: ‘solange er nicht weiß, ob der andere menschlich oder ‘bestialisch‘ ist‘. Wie ein Ereignis wandelt der unterlassene Kontext dieses Satzes unmittelbar die Bedeutung der sehr pessimistischen Aussage über den Menschen. Meist ist es die Angst, dass der Andere unmenschlich sei, die zum Auslöser von Gewalt wird.

Unmenschlich sind immer die anderen

Deshalb richtet sich gewaltloser Widerstand gerade nicht gegen die Unmenschlichkeit des Anderen. Stattdessen geht der/die gewaltlose Widerstandskämpfer/in das Risiko ein, dem Anderen von vornherein ‘Menschlichkeit‘ zu zusprechen. Diese Haltung mag zwar naiv erscheinen. Doch nur sie erlaubt es dem Anderen seine anfängliche Feindseligkeit – die eventuell auch nur auf Angst beruhte – aufzugeben. Dennoch bleibt die Abgrenzung, die der Begriff ‘Menschlichkeit‘ impliziert, problematisch.

Menschlichkeit‘ bezieht sich in Diskursen über den gewaltlosen Widerstand auf eine ideale, ethische Bestimmung des Menschen – ein Ideal der Aufklärung. So sprach Johann Gottfried Herder von der ‘Bildung‘ zur Menschlichkeit / zur Humanität als eine Bewegung, die einem Ideal zustrebt, und die deshalb “unablässig fortgesetzt werden muss, oder wir sinken […] zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück. […] Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also die Bildung zur Humanität.”1

Herder lokalisiert den Menschen demnach zwischen Tier und Gott. Es steht jedoch nicht einmal für den Humanisten Herder fest, was die Menschlichkeit ‘eigentlich’ sei. Denn der friedvolle, kultivierte, tolerante Umgang mit anderen sei nur ‘angelegt‘. Er sei nur ‘teilweise angeboren‘, und müsse deshalb nach der Geburt erst erlernt, kultiviert, kurz: ‘gebildet‘ werden.

Mensch-Werden

Bildung‘ bedeutet hier viel mehr als eine bloße Aneignung und Anhäufung von Wissen. Herder zufolge, wird der Mensch erst durch Bildung wirklich ‘menschlich’. Erst durch dieses aktive Streben, dem göttlichen Ideal im Menschen näherzukommen, realisiert der Mensch sein höchstes Potenzial. Doch in diesem Zitat (1) wird auch schon deutlich, wovon sich stets jeder Begriff der ‘Menschlichkeit‘ abzusetzen und abzugrenzen versucht. Was ausgegrenzt werden soll ist die Tierheit, die Herder hier mit der ‘Brutalität‘ gleichsetzt. ‘Bestialität‘ (‘bestialement‘ / brutal; wie ein Tier) ist ein verwandter Begriff, der noch mehr die angebliche Verbindung zwischen dem Tierischen und der Gewalt verdeutlicht.

Das humanistische Konzept der Menschwerdung durch Bildung muss eine Kluft überbrücken. Dieses Werden steht zwischen den überall zutage tretenden Schattenseiten des Menschen und den humanistischen Idealen.

Wer darf sich Mensch nennen?

Doch dieses Konzept wirft weitere Fragen auf: Was ist etwa mit jenen, die keinen Zugang zu dieser humanistischen Bildung haben? Sind sie ‘noch-nicht-menschlich’, ‘unmenschlich’? Sind sie ‘Wilde’ oder gar ‘Bestien’? “Humanismus als Wort und Sache hat immer ein Wogegen. Denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei. […] Wer heute nach der Zukunft von Humanität und Humanisierungsmedien fragt, will im Grunde wissen, ob Hoffnung besteht, der aktuellen Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden. […] Das Etikett Humanismus erinnert – in falscher Harmlosigkeitan die fortwährende Schlacht um den Menschen, die sich als Ringen zwischen bestialisierenden und zähmenden Tendenzen vollzieht.”2

Tier und Mensch

Auch Jacques Derrida wies in seiner Vorlesung ‘Das Tier und der Souverän‘ auf jene Schwelle zwischen Tier- und Menschheit hin. Derrida versuchte in dieser Vorlesung die scheinbar unumstößlichen Grundlagen des Anthropozentrismus zu dekonstruieren.

Selbst der Poststrukturalist Gilles Deleuze, der in ‘Tausend Plateaus‘ vom ‘Tier-Werden‘ spricht, behält, so Derrida, noch eine Spur ‘Anthropozentrismus’ bei.

Wenn Deleuze, im Fahrwasser Schellings […] sagt, dass […]: ‘la bêtise n’est pas l’animalité[‘die Dummheit ist nicht die Tierheit’], […] dann impliziert er, dass der Mensch selbst dort, […] wo die Bestimmung seiner Individuation ihn gegen den Grundlosen Grund […] schützt, [seine] unbestimmte Freiheit dennoch in Beziehung bleibt mit diesem Grundlosen Grund, und dass von da diese eigentlich menschliche bêtise / Dummheit herrühren würde.”3

Die Freiheit zur Dummheit

Der Mensch hat ein ‘Vorrecht’ auf die Dummheit, denn es steht ihm frei, zu antworten, anstatt bloß zu reagieren. Friedrich Nietzsche nennt deshalb den Menschen ‘das Nicht-festgestellte Tier‘. “Die Dummheit [bêtise] ist […] jener Bezug, in dem die Individuation den Untergrund emporsteigen lässt, ohne ihm Form verleihen zu können. (Über das Ich [Je] hinweg steigt es empor und dringt ins Innerste des Denkens ein, bildet das Nicht-Erkannte jeglicher Rekognition).”4 Das heißt, selbst wenn er vom ‘Tier-Werden‘ spricht, setzt Deleuze noch alles auf die ‘Souveränität‘ des verantwortlichen, menschlichen Ich. Es sei imstande, frei zu antworten und nicht wie das Tier bloß zu reagieren.

Derrida’s dekonstruktive Antwort auf diesen erneuten Abgrenzungsversuch vom Tierischen: “Zwischen dem, was man als Reaktion interpretiert, und dem, was man als Antwort, Verantwortung oder verantwortliche Antwort interpretiert, geht es just um eine übersetzende Interpretation […]. Aufgrund unserer Art zu übersetzen, was man animalische Reaktion nennt, glauben wir, eine Grenze ausmachen und ziehen zu können. Aber es sei ein Übersetzungsrisiko – zwischen der Tierheit und Menschheit, zwischen der reaktiven Animalität und der antwortenden oder verantwortlichen Menschlichkeit.”5

Reagieren oder antworten?

Der Mensch ist unbestreitbar zuerst Reagierender, bevor er zum Antwortenden ‘gebildet’ wird. Auch die Abgrenzung zwischen Antwort und Reaktion ist nicht immer so klar und einfach. Der Abstand zwischen Mensch und Tier ist nicht so groß, dass die Gefahr der ‘Bestialität‘ durch anthropologische Definitionen gebannt werden könnte. Vielleicht ist es ja gerade die ‘Bestialität’ des Willens zur Abgrenzung, die den Menschen vom Tier trennt? Angesichts der Art, wie der Mensch mit der Natur umgeht, scheint es heute mehr denn je fraglich, ob er tatsächlich ‘verantwortlicher’ ist als ‘das Tier’. Es sei denn, man rechnet den zerstörerischen Umgang mit der Natur der dem Menschen ‘eigenen’ Dummheit oder Hybris zu.

Gesetz und Verbrechen

Während es für Deleuze die Dummheit ist, die dem Menschen, aber nicht dem Tier eigen ist, so ist es für Jacques Lacan das Gesetz und die Übertretung des Gesetzes. Lacan tritt der biologistischen Hypothese entgegen, dass es so etwas wie angeborene, genetisch vorbestimmte, ‘verbrecherische Triebe’ gebe.

Doch “was Lacan mit der Unterscheidung zwischen erworbenen und angeborenen [Trieben] unter der Hand unmittelbar mit versteht, ist die Tatsache, dass das Tier […] an diese Fixiertheit des Angeborenen, der angeborenen Verdrahtung oder des angeborenen Programms gebunden ist, während der Mensch in seiner Beziehung zum Gesetz (und also zum Verbrechen) eben nicht gebunden ist.”6

Das Verbrechen, die Lüge, die Grausamkeit, die ‘doppelte Finte‘, die Tilgung der eigenen Spur transzendieren die Animalität. Denn sie finden im ‘Register‘ des Symbolischen statt, wohingegen das Tier dem Imaginären verhaftet bleibt.

Nicht jede Gewalt gilt als grausam

Gewalt wird, so Derrida, nur dann zu menschlicher ‘Grausamkeit’ wenn sie sich gegen Ebenbildliches, Ähnliches richtet. Judith Butler führt Derridas Gedanken weiter. „Strukturen der Ungleichheit beeinflussen die allgemeine Bereitschaft, Gewalt wahrzunehmen und zu benennen und ihre Ungerechtigkeit zu erfassen und zu erklären.“7

Derrida gibt zu bedenken, dass die grausamsten Gewalttaten gerade an Menschen verübt wurden, denen die Würde des Ebenbildlichen aberkannt wurde. Deshalb hält Derrida dafür, dass gerade das Verkennbare, das Unkenntliche (‘méconnaissable‘) der Beginn der Ethik und des Gesetzes sein sollte. Einer Ethik, die auch das Verhältnis zu den Tieren berücksichtigen würde: einer Ethik der ‘Gastfreundschaft‘.

Ethik der Gastfreundschaft

Die absolute Gastfreundschaft erfordert, dass ich mein Zuhause öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem anonymen absolut Anderen (eine) Stattgebe (donne lieu). [...] Ihn Statt haben lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit (den Eintritt in einen Pakt) zu verlangen oder ihn nach seinen Namen zu fragen. Das Gesetz der absoluten Gastfreundschaft gebietet, mit der rechtlich geregelten Gastfreundschaft, […] zu brechen.”8

Die Schwelle nimmt hier eine andere Bedeutung an. Hier ist nicht mehr von metaphysische Schwelle zwischen Tierheit und Menschheit die Rede. Derrida spricht vielmehr von der Schwelle, die der Gast überschreitet, wenn er/sie/es eintritt. Durch seine Andersheit stört er/sie/es unser zum-Abschluss-kommen-wollendes Denken. Seine Unheimlichkeit und Fremdheit sucht unsere Selbstheit (‘chez-moi‘) heim. So kommt selbst Derrida zu einer Definition der Menschheit, die er allerdings als Frage formuliert: “Besteht aber das Eigentümliche des Menschen nicht […] darin, dass er auch Tieren, Pflanzen … und Göttern Gastfreundschaft gewähren kann?9

Humanismus-Streit

Die Frage, was das spezifisch ‘Menschliche’ wäre, existiert nicht erst seit dem ‘Humanismus-Streit’. Sie wird vielmehr gestellt, seit der Mensch zu philosophieren begann. “Denn das ist Humanismus: Sinnen und Sorgen, dass der Mensch menschlich sei und nicht unmenschlich, ‘inhuman’, das heißt außerhalb seines Wesens. Doch worin besteht die Menschlichkeit des Menschen? Sie ruht in seinem Wesen. […] Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen. Jede Bestimmung des Wesens des Menschen, die schon die Auslegung des Seienden ohne die Frage der Wahrheit des Seins voraussetzt, sei es mit Wissen oder ohne, ist metaphysisch.”10

Je nach Richtung der Philosophie fällt die Antwort anders aus. Einmal wird der Mensch als Schöpfung Gottes, als Vernunft- oder Sprach-begabtes Lebewesen gesehen, dann wieder als freies und selbst-bestimmtes Lebewesen, als von bestimmten Diskursen geleitetes, als nach Macht strebendes, als politisches, spielendes, schöpferisches, oder als symbolisches, kriminelles, antwortendes, verantwortliches Lebewesen.

Der Eksistierende

Doch auch Martin Heidegger hat seine Bestimmung des Menschlichen. ‘Der Mensch ist Mensch, insofern er der Eksistierende ist‘. Er existiert, insofern er in die ‘Offenheit des Seins‘, in die Welt ‘hinaussteht‘. Der tierische Leib steht dagegen, Heidegger zufolge, nicht, wie der menschliche in die ‘Wahrheit des Seins‘ hinaus. Dem tierischen Leib bleibt der sprachliche Ausdruck versagt, er bleibt ‘weltlos‘ in seiner Umgebung.

Da das Tier sprachlos ist, kann es nicht antworten oder Verantwortung übernehmen. Folglich wird es von Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau aus dem ‘Gesellschaftsvertrag‘ ausgeschlossen.

Wenn man mit dem Tier kein Abkommen schließen kann, nicht mehr als mit Gott, dann aus Gründen der Sprache. Das Tier versteht unsere Sprache nicht und Gott wüsste uns nicht zu antworten […]. In beiden Fällen könnte es keinen Austausch, kein geteiltes Sprechen, nicht Frage und Antwort, Vorschlag und Erwiderung geben, wie jeder Vertrag [contrat], jedes Abkommen [convention], jeder Covenant es zu erfordern scheint.”11

Der Unheimlichste des Unheimlichen

Dieser Ausschluss, der nicht der Letzte bleiben sollte, erwies sich auch für den Menschen als tragisch. Nicht zuletzt deshalb schenkte Derrida dieser Schwelle zwischen Menschheit und Tierheit so viel Aufmerksamkeit. Seit der griechischen Philosophie ist die beherrschende Definition des Menschen die des ‘zôon logon‘, des ‘Vernunft-geleitetes Lebewesens’. Heidegger stellt dieser, die Metaphysik des Abendlandes beherrschenden, Definition eine andere, ‘tragische’ Definition gegenüber.

In der Tragödie ‘Antigonevon Sophokles wird der Mensch als ‘deinotaton‘ – gewöhnlich übersetzt mit: ‘das Schrecklichste’, ‘Gewalttätigste’ aller Lebewesen – bezeichnet. Heidegger übersetzt aber ‘deinotaton‘ als ‘das Unheimlichste des Unheimlichen‘.

Fremd-sein als menschlicher Grundzug

Der Mensch ist am unheimlichsten, weil er das Vertraute, die gewohnten Grenzen [das Heimische, Heimliche, Heimelige] […] verlässt. Wenn der Chor [in der Tragödie ‘Antigone’] vom Menschen sagt, er sei ‘deinotaton’ oder das Unheimlichste, […] [dann geht es Heidegger mit seiner Übersetzung darum] zu sagen, dass das Wesen des Menschen […] (sein Grundzug) in diesem Fremd-sein gegenüber allem, was man als vertraut, wieder-erkennbar usw. identifizieren kann, bestehe. […] Er ist unheimlicher als alles und als alle, er erreicht […] eine Art exzeptionelle Exzellenz, eine Art Souveränität unter den unheimlichen Seienden und den Modalitäten der Unheimlichkeit. […] Und diese Souveränität, betrifft, im Merkmal des Unheimlichen, eine bestimmte Erfahrung der Fremdheit.”12

Ausgrenzung

Warum sind diese Abgrenzungen der Menschheit, diese Ein- und Ausgrenzungen so bedeutungsvoll? Und warum ist es wichtig, die Erfahrung der Fremdheit als Grundzug des Menschen zu bestimmen? Wie die von Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus, Eugenik, und Islamophobie bestimmten politischen Ereignisse seit der Französischen Revolution zeigen, kann es bei der Frage, ob man/frau von der gerade gültigen Definition der ‘Menschheit‘ erfasst oder ausgeschlossen wird, um Leben oder Tod gehen. Vordergründig sollen diese anthropologischen Setzungen immer das ‘Brutale‘ und ‘Bestialische‘ aus der menschlichen Sphäre bannen;

Zôon politikon

Hintergründig wird jedoch mit jeder anthropologischen Definition eine Hierarchie und ein System von Ausschließungen aufgestellt. So schloss etwa die Aristotelische Bestimmung des Menschen als ‘Zôon politikon‘ Frauen, Sklaven und Kinder aus der menschlichen Gemeinschaft aus. Denn mit ihrem Einschluss in den häuslichen, privaten Bereich [Oikos] wurden sie gleichzeitig aus der Politik der Polis ausgeschlossen. Die Bestimmung des Menschen als ‘zôon logon‘ schließt wiederum all jene aus, die diesem Ideal nicht entsprechen.

Die Erfahrung der Fremdheit

Wird jedoch die Erfahrung der Fremdheit als Grundzug des Menschen bestimmt. Dann wird der scheinbar sichere Grund, auf dem die Schwelle zwischen Tier- und Menschheit ruht, durch eine ‘Enteigentlichung‘ erschüttert. Das Eigene des Menschen hat dann, “die Eigenheit, als eine Eigenschaft wahrgenommen zu werden, die befremdlich, nicht angeeignet, ja nicht anzueignen ist, die dem Heimischen, der beruhigenden Nähe des Identifizierbaren und des Ähnlichen, der Vertrautheit, der Innerlichkeit des Bei-sich-zu Haus fremd gegenüber steht – insbesondere jenseits aller Definition des Menschen als ‘Zôon logon echon‘, die Heidegger als zoologische bezeichnet.”13

Wenn Heidegger die metaphysische Definition des Menschen als ‘zoologisch‘ bezeichnet, dann verurteilt er damit die ‘biologistische‘ Reduktion dieser Definition. Es ist eine Sache, wie Derrida die distinkte Trennung zwischen Menschheit und Tierheit zu hinterfragen. Eine ganz andere Sache ist es, jegliches Leben auf das Organische und auf chemisch beobachtbare pawlowsche Reiz-Reaktionsschemata zu reduzieren.

Biologistische Reduktionen

Dass die Physiologie und die physiologische Chemie den Menschen als Organismus naturwissenschaftlich untersuchen kann, ist kein Beweis dafür, dass in diesem ‘Organischen’, das heißt in dem wissenschaftlich erklärten Leib, das Wesen des Menschen beruht.”14

Es ist der Determinismus dieses Biologismus, gegen den Heidegger, Lacan, Derrida, Arendt anschreiben:

Hannah Arendt: “Die scheinbar so neuen biologischen Rechtfertigungen der Gewalt [Hannah Arendt bezieht sich hier unter anderem auf Konrad Lorenz: ‘Das sogenannte Böse‘] hängen wiederum aufs Engste mit den verderblichsten Traditionsbeständen politischen Denkens zusammen.”15

Trieb-Theorie

Auch Judith Butler verwendet in ‘The Force of Non-Violence‘ den Begriff ‘Aggression’, doch sie leitet ihn aus der Triebtheorie von Sigmund Freud und Melanie Klein ab. Triebe gehören, wie sie betont, sowohl zur Sphäre des Lebens (‘bios’) als auch zur spezifisch menschlichen, psychologischen Sphäre.

Eine skeptische Position gegenüber der Triebtheorie ergibt sich aus einer fehlerhaften Übersetzung von Freuds ‘Trieb’ als ‘Instinkt’ […], die zu einem biologistischen Verständnis des Begriffs in der englischsprachigen Literatur, und in einigen Fällen zu der Ansicht führt, Triebe würden bei Freud einer Form des biologischen Determinismus folgen: Freud stellt jedoch selbst […] klar, dass der Trieb […] weder ausschließlich zum Bereich der Biologie noch zu einem vollständig autonomen psychischen Bereich gehört, sondern als Grenzbegriff zwischen der somatischen und ideellen Sphäre fungiert.16

Gewalt: rational, instrumental und menschlich

Hannah Arendt betont, dass Gewalt weder irrational noch ‘biologisch‘, kurz: ‘bestialisch’ sei, sondern rational, instrumental und menschlich. Rassistische Gewalt etwa beruht auf einer ‘zur Ideologie entarteten Meinung‘. Die Gewalttaten, die er auslöst, beruhen nicht auf spontanen Affekten, sondern seien Willensakte.

Die Konzentrationslager dienten nicht nur der Ausrottung von Menschen, sie dienten auch dem ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlich exakten Bedingungen, Spontaneität als menschliche Verhaltungsweise abzuschaffen und den Menschen in etwas zu verwandeln, was noch nicht einmal ein Tier ist, nämlich ein Bündel von Reaktionen, das unter den gleichen Bedingungen sich immer wieder gleich verhalten wird.”17

Wolfs-Tyrannen

Eine jener ‘verderblichsten Traditionen politischen Denkens‘, von denen Hannah Arendt im Kontext ihrer Biologismus-Kritik spricht, ist Thomas Hobbes‘ Rechtfertigung des Gesellschaftsvertrages. Im Hobbschen Gesellschaftsvertrag beschließen Menschen, die einander ‘Wölfe‘ sind, sich von einem ‘Wolfstyrannen‘ voreinander schützen zu lassen. Dieser Tyrann steht als Souverän außerhalb, abseits und über dem Gesetz. Im Falle eines ‘Ausnahmezustandes’, in dem das Chaos des Naturzustandes wieder auszubrechen droht, kann der Souverän das Gesetz jederzeit aufheben und neu setzen.

Indem sie sich das gemeinsame Außerhalb-des-Gesetzes-stehen teilen [sind sich] das Tier, der Verbrecher und der Souverän auf beunruhigende Weise ähnlich. […]. Von daher […] rührt die in der politischen Rhetorik heute so häufig geäußerte Anklage gegen souveräne Staaten, die das […] internationale Recht nicht respektieren […] als ‘Schurkenstaaten‘, das heißt als delinquente, verbrecherische Staaten.”18

Angst als Instrument der Konditionierung

Um die ‘Bestialität’ des Naturzustandes unter Kontrolle zu halten, muss der Bürger durch ‘Konditionierung’ zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz ‘motiviert’ werden. Die ‘einzige Sache’ die diese Zähmung zustande bringen kann, ist die Furcht die der Souverän erregt und die gleichzeitig seine Souveränität erst ermöglicht. Die Furcht ist, Hobbes zufolge, der Ursprung des Gesetzes, das den Bürger vor der eigenen wölfischen Bestialität und vor der Brutalität der Anderen schützen soll. Das politische Subjekt ist bei Hobbes deshalb vor allem einem Affekt unterworfen: der Angst.

Gegen Hobbes’ Verständnis des Vertrags als Mittel zur Lösung ‘natürlicher’ (vor-gesetzlicher) gewalttätiger Konflikte besteht [Walter] Benjamin in Kritik der Gewaltdarauf, dass ‘eine völlig gewaltfreie Lösung von Konflikten niemals zu einem legalen Vertrag führen kann‘, da der Vertrag für ihn der Beginn legaler Gewalt ist.”19

Mitgefühl

Jean-Jacques Rousseau hatte bekanntlich eine andere Vorstellung – sowohl vom Naturzustand, als auch vom Gesellschaftsvertrag.

Weil er [Hobbes] in die Sorge des wilden Menschen um seine Erhaltung unpassenderweise das Bedürfnis hineingelegt hat, eine Menge von Leidenschaften zu befriedigen, die das Werk der Gesellschaft sind, […] [zieht er den Schluss, dass der Mensch von Natur aus böse sei]. […] Es gibt überdies noch ein anderes Prinzip, das Hobbes nicht bemerkt hat. […] Ich spreche vom Mitleid […], dem angeborenen Widerwillen, seines gleichen leiden zu sehen. […] Solcher Art ist die reine Regung der Natur; […] [Erst] die Vernunft erzeugt die Eigenliebe; […] sie lässt den Menschen auf sich selbst zurückziehen; […] sie bewirkt, dass er beim Anblick eines leidenden Menschen insgeheim sagt: ‘stirb wenn du willst; ich bin in Sicherheit’.”20

Wolfs-Sprache

Die Vernunft ist es, die dem Menschen Argumente eingibt, die gegen die Stimme seiner mitfühlenden Natur sprechen. Sie macht ihn/sie unempfindlich(er) gegen das Leid anderer Lebewesen. Wenn das Menschengeschlecht nur von den Maximen der Vernunft abhinge, wäre es, so Rousseau, schon längst ausgestorben. Rousseaus ungewöhnliche These ist also, dass der Mensch erst durch die Zivilisierung bestialisch bzw. grausam wurde. Wenn Hannah Arendt behauptet, dass Gewalt nicht ‘natürlich’ sei, sondern ‘rational, instrumental und menschlich‘, folgt sie demnach einem Rousseauschen Gedankenstrang.

Auch wenn Marshall B. Rosenberg die statische, festschreibende ‘Wolfssprache’ (autoritäre Konditionierung durch Angst und Manipulation durch Schuldgefühle) einer prozesshaften ‘Giraffensprache’ des Mitgefühls entgegensetzt, ist ein Widerhall von Hobbes und Rousseau zu hören.

Wir sind noch gar nicht weit entfernt von dem Prinzip der absoluten Autorität. […] Ich bin in Zar-Sprache erzogen worden: richtig, falsch, gut und schlecht. Die Sprache der unangetasteten Wahrheit, die dazu dient, Menschen so zu programmieren, dass sie unterwürfig und servil gegenüber Autoritäten sind. Die Art und Weise, wie Menschen das Denken gelehrt wurde, hängt eng mit der Sprache zusammen, die sie benutzen. Wenn Menschen also in einer Dominanzkultur aufwachsen, dann entsteht aus dieser Erziehung sehr viel Gewalt, die wiederum das Weltbild dieser Kultur festigt: ‘Man sieht doch, wie gewalttätig die Menschen sind, sie sind höchst gefährlich, wenn sie nicht erzogen und kontrolliert werden von Autoritäten wie Eltern, Lehrern und Königen’.”21

Eigentum: Rousseau’s Sündenfall

Rousseau unterscheidet mehrere Phasen im Naturzustand des Menschen. Solange die Erde noch überwiegend mit Wäldern bedeckt war und die Menschen den Ackerbau noch nicht erfunden hatten, waren alle Menschen frei und gleich. Sie hatten keinen Grund, sich gegenseitig zu bekriegen. Der ‘Sündenfall‘, der die Menschheit aus dem wilden Paradies der Freiheit und Gleichheit vertrieb, war die Sesshaftigkeit des Menschen. Rousseau beschreibt diesen Entwicklungsschritt des Menschen zugleich als ‘letztes Stadium des Naturzustandes’.

Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ‘Dies ist mein’ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen und den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‘Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass die Erden niemanden gehört‘.”22

Amour propre

Durch die Sesshaftigkeit konnten, ja mussten sich die mentalen Fähigkeiten des Menschen weiterentwickeln. So entstand auch der Stolz und die Sorge um das Ansehen. Rousseau fasst diese ‘Zivilisationskrankheiten‘ unter ‘Selbstliebe‘ / ‘amour propre‘ zusammen. ‘Propre‘ spielt dabei auch auf den Zusammenhang dieser Gefühle mit dem Eigentum / ‘propriété‘ an. Durch die Bequemlichkeiten einer gesicherten Bleibe vermehrten sich die Bedürfnisse. So gerieten die Menschen erstmals in Abhängigkeit zueinander.

Gründungsfiktion

Eine bemerkenswerte Eigenart dieser Naturphantasie, die regelmäßig als ‘Grundlage’ herangezogen wird, ist, dass es am Anfang anscheinend einen Mann gibt, der schon erwachsen, selbstständig und autark ist. […] Als wäre er nie ein Kind gewesen […] nie abhängig von Eltern oder Verwandtschaftsbeziehungen oder von sozialen Institutionen, um zu überleben und zu wachsen. […] Nehmen wir also zur Kenntnis, dass diese Erzählung nicht am Ursprung beginnt, sondern mitten in einer Geschichte, die nicht erzählt werden soll: Mit dem Moment, der den Anfang markiert […] sind Unabhängigkeit und Abhängigkeit bereits [nach Geschlecht] aufgeteilt.23

Judith Butler kritisiert den Individualismus, der in diese Gründungsphantasien eingeschrieben ist. In ihnen sind die gegenseitigen Abhängigkeiten der Menschen immer schon ‘aus dem Bild des ursprünglichen Menschen herausgeschrieben‘. Diese männliche Fiktion der Unabhängikeit und des stets freien Willens wird bis heute immer wieder aktualisiert – nicht nur von chauvinistischen Rechtspopulisten. Der Gesellschaftsvertrag ist deshalb, so Butler, immer schon ein sexueller Vertrag.

Ausnahmezustand

Durch die Ungleichheit der Fähigkeiten und folglich auch der Besitzverhältnisse entstanden wiederum Konkurrenz, Rivalität, Neid, Rachsucht. Es entstand ‘eine finstere Neigung, sich gegenseitig zu schaden‘ und ‘eine versteckte Begierde, seinen Gewinn auf Kosten anderer zu realisieren‘. So befand sich die Gesellschaft bald in dauernden, sich immer weiter verschärfenden Konflikten. Dieser Krisenzustand war, so Rousseau – hier stimmt er mit Thomas Hobbes überein – der Ausgangspunkt für den Gesellschaftsvertrag. Doch ist Rousseaus Gesellschaftsvertrag kein Vertrag des Volkes mit einem Souverän, sondern ein Vertrag des Volkes mit sich selbst:

Der Vertrag des Volkes mit sich selbst

Um das Neue an Rousseau zu denken, müssen wir auf die klassischen Verträge zurückgehen. In ihnen sind beide Vertragspartner verschieden und gehen dem Vertrag voraus: zum Beispiel das Volk und der Fürst. […] Rousseaus Waffe gegen Hobbes ist, dass er die totale Entäußerung als etwas Äußeres [der absolutistische Souverän als ‘Schutzpatron’ des Volks, der als Gesetzgeber außerhalb des Gesetzes steht] in eine totale Entäußerung im Inneren überführt: Der dritte Vertragspartner wird so zum zweiten, der Fürst [wird] zum Souverän, der die Gemeinschaft selber ist, an die die freien Individuen sich total entäußern, ohne ihre Freiheit zu verlieren, weil der Souverän nichts anderes ist als die Gemeinschaft eben dieser Individuen.”24

Die demokratische Gesetzgebung muss, so Rousseau, jede gewaltsame Durchsetzung von Einzelwillen ausschließen. Sie muss dem ‘Recht’ der Stärkeren, Hierarchien zu bilden, entgegenwirken. Denn während der Wille des Einzelnen nach Vorzügen strebt, strebt der allgemeine Wille nach Gleichheit. Alle müssen deshalb ‘auf dieselben Bedingungen hin verpflichtet werden’ und die selben Menschen- oder Bürgerrechte genießen. Unter ‘Gleichheit’ versteht Rousseau einen Zustand des Gleichgewichts. ‘Kein Staatsbürger darf so reich sein, dass er andere kaufen kann‘, und ‘keiner darf so arm sein, dass er sich selbst verkaufen muss‘.

Befreiung aus der Autoritätsgläubigkeit

Damit das Volk für einen solchen Vertrag bereit werde, müsse es sich erst aus der sklavischen Mentalität, die sich ihm über Jahrhunderte hinweg eingeprägt hat, befreien. Damit direkte Demokratie möglich wird, muss sich der Mensch, der bis dahin der Furcht vor dem Souverän unterworfen war, radikal ändern.

Es ist eine Eigentümlichkeit der Rousseauschen Vertragstheorie, dass sie den staatsrechtlichen Diskurs der politischen Philosophie der Neuzeit mit dem ethischen Diskurs der republikanischen Tradition vermischt, [und] damit Motivations-, Erziehungs- und Integrations-Fragen in die Argumentation einführt, die der auf die Zwangsordnung des Staates setzende Kontraktualismus glaubt, aus dem Diskurs der politischen Philosophie ausklammern zu können.”25

Biopolitische Wende

Wenn Michel Foucault von einem Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie von den Souveränitäts- zu den Gouvernementalitäts-Theorien spricht, dann ist Rousseaus Konzept des Gesellschaftsvertrags ein Meilenstein dieser biopolitischen Wende. Wenn auch die Idee der Demokratie nicht neu war, so doch die des Nationalstaates, dessen Volk ‘sich selbst’ regiert. Indem die Bevölkerung und ihre Entwicklung ins Zentrum des Interesse des Regierens rückt, entsteht die moderne ‘Biopolitik‘.

Laut Foucault haben Liberalismus und die Biopolitik ein gemeinsames Ziel. Sie sollen die Regierung der Bevölkerung effizienter machen und sie auf das Wesentliche beschränken.

Dank der Wahrnehmung der spezifischen Probleme der Bevölkerung und dank der Abgrenzung jenes Realitätsniveaus, das man als Ökonomie bezeichnet, [konnte] das Problem des Regierens endlich außerhalb des juristischen Rahmens der Souveränität gedacht, reflektiert und erwogen werden. […] Der Blick auf die Bevölkerung und die Wirklichkeit der für die Bevölkerung eigentümlichen Phänomene erlauben es, das Modell der Familie [‘Oikos’ war in der Antike der Familienhaushalt] endgültig beiseite zu schieben und jenes Verständnis der Ökonomie auf etwas anderes hin neu auszurichten.”26

Phantasmagorie des Rassismus

Während Foucault dieses neue biopolitische Paradigma als neutral beschreibt, fordert Judith Butler uns auf, die Biopolitik nicht von den demografischen Entwertungen des Rassismus zu isolieren. Die ‘Phantasmagorie des Rassismus‘ operiert, so Butler, innerhalb der Metrik der ‘Betrauerbarkeit’ (‘grievability‘).

Die vorherrschenden Schemata, nach denen der Wert des Lebens zugeordnet wird, beruhen auf einer Modulation der ‘Betrauerbarkeit’, unabhängig davon, ob diese Metrik jemals benannt wurde oder nicht. Das historisch-rassistische Schema, das es ermöglicht, zu behaupten: ‘Dies ist oder war ein Leben’ oder ‘Dies sind oder waren Leben’ [‘This lives matter’] ist eng mit der Möglichkeit notwendiger Arten der Wertschätzung des Lebens verbunden: Gedenken, Schutz, Anerkennung und Erhaltung des Lebens. Die Phantasmagorie des Rassismus ist Teil dieses Rassenschemas.”27

2. Menschenrechte

Rousseaus revolutionärer Weg, den Zuständigkeitsbereich der Regierung zu begrenzen, bestand darin, von den individuellen Freiheitsrechten auszugehen. Diese Rechte leitete er aus dem ‘Naturzustand‘ des Menschen ab. Die Konzeption von unveräußerlichen Rechten, die jeder Mensch von Geburt an habe, entstand im Rahmen der modernen Naturrechtslehre, dessen erster Vertreter John Locke war.

“[Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte] wurde am 10. Dezember [1948] von 48 Staaten auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und von da an als Orientierung angesehen, nicht nur für die Weiterentwicklung der internationalen Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft von Staaten, sondern auch zu einer von freien und gleichen Individuen. […] Mit dieser Erklärung wird ein Wertesystem […] universal, und zwar nicht im Prinzip, sondern faktisch, denn der Konsens wurde als Regelung für das Zusammenleben der künftigen Gemeinschaft aller Menschen und Staaten formuliert.”28

Der Naturzustand

Im Naturzustand, seien die Menschen, so John Locke wie Jean-Jacques Rousseau, frei und gleich. Der ‘Naturzustand‘ war in der politischen Philosophie, so Norberto Bobbio, ein theoretisches Denkmodell. Sein Zweck bestand darin, die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit gegenüber Staat und Kirche zu rechtfertigen. Freiheit und Gleichheit sind keine Tatsachen, sondern universelle Werte oder Verpflichtungen.

Die Zivilgesellschaft soll, so Locke und Rousseau, diese Freiheit und Gleichheit der Einzelnen durch Gesetze gewährleisten. Norberto Bobbio spricht in Bezug auf die Deklaration der Menschenrechte 1948 von einer ‘individualistische Wende‘ in der politischen Philosophie. Diese Wende habe schon mit der ersten Erklärung der Menschenrechte während der Französischen Revolution begonnen.

Individualistische Wende

Während Niccoló MachiavellisFürst‘ und Thomas Hobbes’ ‘Leviathan‘ – wie auch in der griechischen Antike Platons ‘Staat – an den Souverän gerichtet waren, änderte sich dies mit John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Mit dem naturrechtlichen Denken begann die politische Philosophie die Perspektive des regierten Individuums einzunehmen. Sie wandte sich seinen/ihren Rechten zu – und nicht nur seinen/ihren Pflichten gegenüber dem Souverän.

Thomas Hobbes fasste den Naturzustand im Grunde als Ausnahmezustand auf, der die Souveränität des Herrschers rechtfertigt. Demgegenüber entwarf Locke ihn als einen Zustand ‘vollkommener Freiheit’. Er erlaube dem Einzelnen, “innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.”29

Leviathan – der Staat als Lebewesen

Diese individualistische Auffassung konnte sich anfänglich nur schwer gegen die organizistische Konzeption des Staates durchsetzen. Diese versteht den Staat als ‘Körper’ mit der ‘Seele’ des Souveräns – wie ihn Hobbes im ‘Leviathan‘ beschreibt. Die individualistische Auffassung wurde, so Bobbio, als Quelle von Unordnung und Zwietracht, als Bruch mit der bestehenden Ordnung angesehen. Deshalb bedurfte es erst eines Unabhängigkeitskrieges und einer Revolution, um der individualistischen Perspektive in der politischen Philosophie und den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Individualismus bildet die philosophische Basis der Demokratie.

Menschenrechte oder Bürgerrechte?

Doch obwohl in der ersten Menschenrechtserklärung zwar theoretisch zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten unterschieden wurde, handelte es sich doch faktisch um Bürgerrechte.

Mit der Erklärung von 1948 beginnt eine dritte und letzte Phase, in der die Forderungen nach Menschenrechten zugleich universal und positiv ist. Universal in dem Sinne, als die in ihnen enthaltenen Rechte nicht mehr nur für die Bürger eines bestimmten Staates, sondern für alle Menschen gelten. Und positiv, weil diese Erklärung einen Prozess in Gang setzte, an dessen Ende […] wirkungsvolle Garantien gegen Staaten stehen sollten, die sie verletzen.”30

Die Liste der Menschenrechte wird immer umfangreicher. Sie umfasst heute nicht mehr nur die klassischen, ‘negativen’ Freiheitsrechte, die für jeden Menschen gleichermaßen gelten sollten, sondern auch ‘positive’ politische und soziale Rechte.

Freiheitsrechte, politische und soziale Rechte

Freiheitsrechte sind Rechte, die auf die Einschränkung der Staatsmacht auf die Freiheit des Individuums abzielen. Sie verschaffen dem Individuum oder Gruppen eine Sphäre der Freiheit vom Staat. Die Freiheitsrechte umfassen das Recht auf Eigentum, auf Sicherheit und auf Widerstand gegen Unterdrückung (etwa das Recht, einer Gewerkschaft beizutreten), sowie die Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit.

Politische Rechte betreffen die Beteiligung am politischen Geschehen im Staat und die politische Machtausübung selbst.

Soziale Rechte betreffen die Verpflichtung des Staates, durch Hilfe für eine gerechte Verteilung des Wohlstandes und für soziale Sicherheit zu sorgen.

Hannah Arendt betrachtete diese Entwicklung mit Skepsis:

Die anscheinend humanitären Anstrengungen, wenigstens auf dem Papier jedem Menschen so viele Rechte wie nur möglich zuzusprechen, diskreditiert nicht nur die Idee der Menschenrechte als eine Utopie; […] Wenn es überhaupt so etwas wie ein eingeborenes Menschenrecht gibt, dann kann es nur ein Recht sein, das sich grundsätzlich von allen Staatsbürgerrechten unterscheidet. Um dieses Recht zu entdecken, mag es nützlich sein, sich erst einmal die legale Lage der Rechtlosen selbst anzusehen.”31

Spezialfälle

Neben den universalen Menschenrechten, wurden auch Spezialfälle der Menschenrechte nachträglich hinzugefügt. 1952 entstand die ‘Konvention über die politischen Rechte der Frau‘, 1959 die Erklärung der Rechte des Kindes, 1975 und die Rechte von Behinderten, und 1982 die Rechte der Alten; Durch den Prozess der Entkolonialisierung entstand auch die Notwendigkeit, Grundrechte für Völker auf Selbstbestimmung zu fordern. Diese Rechte gelten dem entsprechend nicht wie die Freiheitsrechte universell und unterschiedslos für alle Menschen. Die Umsetzung der sozialen und politischen Menschenrechte ist noch schwieriger als die der Freiheitsrechte.

Dennoch verteidigt der indische Philosoph und Professor der Ökonomie, Amartya Sen diese Erweiterung.

Wer Ansprüche auf Menschenrechte mit der Begründung abweist, dass sie nur unvollständig realisierbar seien, verkennt, dass auch ein nicht vollständig verwirklichtes Recht ein Recht bleibt und folglich zu Handlungen aufruft, die Rechtsbrüche verhindern. Nicht-Realisierung für sich macht keinen Rechtsanspruch zu einem Nicht-Recht. Vielmehr ist sie ein Antrieb zu mehr sozialer Aktion. Der Versuch, alle wirtschaftlichen und sozialen Rechte aus dem Allerheiligsten der Menschenrechte auszuschließen und diesen Raum allein der Freiheit und anderen Rechten der ersten Generation vorzubehalten, hat so wenig Aussicht auf Nachhaltigkeit wie ein Strich im Sand.”32

Die Frage der Umsetzung

Die Umsetzung der Menschenrechte ist, so Norberto Bobbio, die eigentliche Schwierigkeit. Denn die Organe der internationalen Gemeinschaft bieten den Staaten, die sie bilden, nur Direktiven. Felix Oppenheim unterscheidet drei Formen der Beeinflussung von Staaten, die sich nicht an diese Direktiven halten: ‘Überredung‘, ‘Ermutigung‘ und ‘Konditionierung‘; so wie drei Formen der Gewalt: physische Gewalt, gesetzmäßige Behinderung und die Androhung von Sanktionen.

Der Schutz der Menschenrechte wird durch ‘Promotion‘, ‘Kontrolle‘ und ‘Garantie‘ gewährleistet. Promotion und Kontrolle beziehen sich ausschließlich auf bestehende Rechte innerhalb der Staaten. Garantien sollen darüber hinaus durch internationale Schutzrechte gewährleistet werden, wenn sie innerhalb eines Staates unzureichend sein sollten. ‘Rechtsstaaten‘ sind jene Staaten, in denen die Verfassung die Menschenrechte garantiert.

Drastisch ausgedrückt befinden wir uns heute beim internationalen Schutz der Menschenrechte in einer Phase, in der dieser Schutz dort, wo er vielleicht gar nicht so notwendig wäre, möglich ist, während er dort, wo er nötig wäre, am wenigsten möglich ist.”33

Menschenrechte und der Nationalstaat

Sowohl das Konzept der Menschenrechte als auch das der Nationalstaaten hat seine Wurzeln in der Philosophie der europäischen Aufklärung. Als im Zuge der Französischen Revolution das erste Mal Menschenrechte deklariert wurden, und die Souveränität durch die symbolische und reale Enthauptung des Königs auf das Volk übertragen wurde, war dies gleichzeitig die Geburt des Nationalstaates.

Nur die emanzipierte Souveränität des Volkswillens, und zwar des Willens des eigenen Volkes, schien imstande, die Menschenrechte zu verwirklichen. Insofern die Französische Revolution die Menschheit als eine Familie von Nationen begriff, richtete sich der Begriff des Menschen, der den Menschenrechten zugrunde lag, nach dem Volk und nicht nach dem Individuum.”34

So heißt es in der ersten Menschenrechts-Deklaration: “Art. II. Der Endzweck aller politischen Vereinigungen ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Art. III. Der Ursprung aller Souveränität ruht seinem Wesen nach in der Nation.”35

Imperialistische Expansion

Durch den Imperialismus‘ einiger Nationalstaaten wie England, Frankreich, Belgien wurde diese gesellschaftliche Organisationsform wie ein Virus auf alle kolonisierten Länder übertragen. Hannah Arendt weist in ‘Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‘ darauf hin, dass die ‘imperialistische’ Expansion der Idee des Nationalstaates zuwider läuft.

Die Nation begriff ihre eigenen Gesetze als aus der einmaligen nationalen Substanz stammend; sie können daher über das eigene Volk hinaus und jenseits des nationalen Territoriums keine Gültigkeit beanspruchen. […] Darum weckte der Nationalstaat, wo immer er als Eroberer auftrat, das Nationalbewusstsein in den eroberten Völkern und mit ihm einen Anspruch auf Selbstherrschaft, gegen den die Nation prinzipiell wehrlos war; alle nationalen Versuche, Reiche von Bestand zu bilden, sind an diesem Widerspruch gescheitert.”36

Die Vervielfältigung des Konzeptes ‘Nationalstaat’

Es scheint so, als hätte die Französische Revolution einen revolutionären ‘Befreiungsvirus’ oder ‘Spaltpilz’ im Konzept des Nationalstaates hinterlassen. Durch dieses revolutionäre Potenzial ist ein dauerhaftes Fuß fassen von imperialistischen Tendenzen zum Scheitern verurteilt. Jean-Jacques Rousseau:

In jedem politischen Körper gibt es ein Maximum der Kraft, über das er nicht hinausgehen darf und von dem er sich durch Vergrößerung oft entfernt. Je weiter sich das staatliche Band ausdehnt, umso lockerer wird es, und gewöhnlich ist ein kleinerer Staat verhältnismäßig stärker als ein größerer. […] Für so viele verschiedene Provinzen mit verschiedenen Sitten und unter entgegengesetzten Himmelsstrichen gelegen, die nicht dieselbe Regierungsform vertragen, können die gleichen Gesetze unmöglich angemessen sein. […] Die mit Geschäften überbürdeten Vorgesetzten sehen nichts mit eigenen Augen; Unterbeamte regieren den Staat.”37

Es scheint, als würde Rousseau hier die Verhältnisse in den Kolonien der ‘imperialistischen’ Nationalstaaten beschreiben.

Fatale Unübersichtlichkeit

1943 brach in Bengalen eine Hungersnot aus, der innerhalb eines halben Jahres über eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren. Dies lag, so Amartya Sen, unter anderem am mangelhaften Informationsaustausch zwischen der Kolonialregierung und dem Mutterland. Der Vizekönig ‘übersah’ diese Hungersnot und befahl sogar, noch mehr Reis aus Bengalen nach Ceylon auszuführen. Was er ‘übersehen’ hatte, war, dass wegen Kriegsanstrengungen in Bengalen der Bedarf an Grundnahrungsmitteln plötzlich stark angestiegen war. Dadurch schnellten die Preise für Lebensmittel so hoch, dass sich die Landbevölkerung nicht mehr leisten konnte, Reis zu kaufen.

Der Glaube der Kolonialregierung an eine falsche Theorie über Hungersnöte [nämlich, dass es nur auf das Ertragsvolumen der Grundnahrungsmittel ankomme, das in der fraglichen Zeit nicht zurückgegangen war] war außergewöhnlich, aber noch mehr verwunderte es, dass man in New Delhi unfähig war, wahrzunehmen, wie täglich viele Tausende auf den Straßen starben. […] Ein demokratisches System mit öffentlicher Kritik und parlamentarischem Druck hätte den Regierungsbeamten, einschließlich Gouverneur von Bengalen und Vizekönig Indiens, nicht gestattet, so zu denken, wie sie dachten. […] In London begannen verantwortungsbewusste Diskussionen erst im Oktober 1943, nachdem Ian Stephens, der mutige Chefredakteur des in Kalkutta erscheinenden ‘Statesman‘ sich entschlossen hatte, das Schweigen zu brechen. […] Das hatte zur Folge, dass im November – endlich – staatliche Hilfsmaßnahmen organisiert wurden.”38

Kolonisierung als kapitalistisches Unternehmen

Die Expansion der Nationalstaaten war schon von Beginn an keine politische, sondern eine kapitalistische Unternehmung. Der Kolonialismus in Indien hat bekanntlich mit der Britischen Ost-Indien Gesellschaft schon im 17. Jahrhundert begonnen. Doch erst 1857 wurden die Rechte der Kompanie an die britische Krone übertragen.

Der unbegrenzte Prozess der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner Sicherstellung einer ‘unbegrenzten Macht’, nämlich eines Prozesses der Macht-Akkumulation, der durch nichts begrenzt werden darf, als durch die jeweiligen Bedürfnisse der Kapitalakkumulation.”39

Der Grund der Übertragung der Rechte an die britische Krone waren überhandnehmende Widerstände der lokalen Bevölkerung gegen die Ausbeutung durch die Ost-Indien Gesellschaft. Um die Aufstände der lokalen Bevölkerung unterdrücken zu können, brauchten die Kolonisatoren eine Verwaltung und Exekutive.

Schutz des Mutterstaates

Hannah Arendt erwähnt in diesem Zusammenhang, wie präzise Thomas Hobbes diese kapitalistische Logik vorhergesehen hat.

Das Wort ‘Schutz’ trägt hier die ganze Last beziehungsweise Aufgabe des Politischen, das heißt des Versicherungsvertrags, den erschrockene und verschreckte […] Untertanen untereinander eingehen, um die Last / Aufgabe ihres Schutzes da, wo sie sich nicht mehr selbst zu schützen zu vermögen, an den Staat oder den Souverän zu delegieren.”40

Derrida bezieht sich hier auf Hobbes’ Auffassung politischer Macht. Doch das gesamte Zitat ließe sich wiederum auf die Situation der Kapitalisten in den Kolonien beziehen. Als sie ihrer riskanten Abenteuer müde geworden waren, suchten sie den ‘Schutz’ ihres Staates vor den Aufständen der Bevölkerung gegen ihre Ausbeutung.

Die Ausweitung der Macht des Staates über die Grenzen des Territoriums hinaus stieß jedoch, so Arendt, auf den Widerstand des Parlamentes und der Presse des Mutterlandes. Die Auswirkung des europäischen Nationalstaaten-Virus war in Indien jedenfalls wiederum eine Teilung. Indiens Unabhängigkeit kam mit einer willkürliche Grenzziehung einher, die 20 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat.

Staatenlos

In ‘Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‘ widmet Hannah Arendt ein ganzes Kapitel dem Problem der Staatenlosen und Minderheiten. Arendt war selbst 18 Jahre lang Flüchtling und staatenlos, nachdem sie 1933 Deutschland verlassen hatte. Danach fand sie Zuflucht in Paris und schließlich in den USA.

In gewissem Sinne bedeutet die Verwandlung der Flüchtlinge in Staatenlose, die in dem Augenblick automatisch vonstattenging, als nicht mehr einzelne, verfolgte Individuen über die Grenze kamen, sondern ganze Volkssplitter, den Zusammenbruch des Asylrechts. Flüchtlinge kennt die europäische Welt seit der Antike, und dass Asylrecht galt als heilig […]. Dass dieses Asylrecht innerhalb einer nationalstaatlich organisierten Welt kein Recht mehr war, sondern nur auf Duldung beruhte, […] hätte man vielleicht schon daran erkennen können, dass es als geschriebenes Gesetz in keiner modernen Konstitution […] zu finden ist.”41

Durch Bürgerkriege und Grenzstreitigkeiten der neuen Nationalstaaten im Osten Europas, sowie durch die Russische Revolution, den ‘weißen Terror’ und den Spanischen Bürgerkrieg waren zwischen den Weltkriegen und während des Zweiten Weltkrieges in Europa zehn Millionen Menschen Flüchtlinge geworden.

Immer mehr Menschen waren gezwungen, unter Bedingungen absoluter Rechtlosigkeit zu überleben. Manche Angehörige von Minderheiten sahen aber auch, so Arendt, gewisse Vorteile in der Staatenlosigkeit. Wenn sie etwa aus einem Land, in dem sie Minderheit waren, in ein anderes flohen, in der ihre Volksgruppe zur Mehrheit gehörte. Oder, wenn sie aus anderen Gründen nicht in ihr Heimatland zurückgehen konnten oder wollten.

Entstehung eines Polizeistaates

Man verschlechterte die Situation der Staatenlosen willentlich, um Abschreckungsmaßnahmen zu schaffen, wobei manche Regierungen so weit gingen, jeden Flüchtling kurzerhand als ‘lästigen Ausländer’ zu bezeichnen, und die Polizei anwies, sie dementsprechend zu behandeln. In den letzten Jahren vor Kriegsausbruch hatten die Polizeien der westlichen Länder alle Übersicht über die Ausländer verloren, weil die Flüchtlinge sich in die Illegalität gerettet hatten, wie sie vorher in die Staatenlosigkeit geflüchtet waren.”42

Durch diese Entwicklung kam es schließlich so weit, dass ein Verbrecher mehr Rechtsschutz genoss als ein Staatenloser.

Das in dieser Situation entstehende Chaos rechtfertigte ein immer willkürlicher werdendes Polizeireglement. Weil sich die Polizei zur Abschiebung der illegalen Flüchtlinge illegaler Mittel bedienen musste, konnten die Polizisten mit den Staatenlosen praktisch machen, was sie wollten. Es gab keine höhere Instanz, an die Staatenlose appellieren hätten können. Der Machtbereich der Polizei weitete sich immer mehr aus und ein unsichtbarer Polizeistaat bereitete den Boden für die totalitären Regime.

Totalitäre Regierungen, die im Zuge ihrer Welteroberungspolitik ohnehin trachten mussten, die Nationalstaaten zu zerstören, haben sich dann ganz bewusst darum bemüht, diese staatenlosen Gruppen zu vermehren, um die Nationalstaaten von innen her zu zersetzen. Denaturalisierung und Entzug der Staatsbürgerschaft gehörten zu den wirksamsten Waffen in der internationalen Politik der totalitärer Regierungen […]. Wen immer die Verfolger als Auswurf der Menschheit aus dem Lande jagten – Juden, Trotzkisten und so weiter – wurde überall auch als Auswurf der Menschheit empfangen […].43

Minderheit par Exzellence

Die Juden wurden, so Arendt, zur ‘Minderheit par excellence‘. Sie lebten einerseits über ganz Europa verstreut und waren in allen Ländern durch Minderheiten-Verträgen vertreten. Andererseits waren sie aber auch kein homogener ‘Volkssplitter’, der in Europa nach einem eigenen Nationalstaat hätte streben können. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Staatenlose von der Polizei in illegalen Aktionen von einem Land ins andere abgeschoben. Von der Polizei des Nachbarlandes wurden sie wieder zurück-geschoben. Schließlich wurden Staatenlose in Internierungslagern oder gar in Konzentrationslagern eingesperrt.

So hatte die Polizei einiger westlicher Staaten schon geheime Verbindungen zur GESTAPO, als die Regierungen dieser Staaten noch eine andere Politik verfolgten. Obwohl sie als Jüdin selbst von dieser Verfolgung betroffen war, betrachtete Hanna Arendt jedoch die zionistischen Bestrebungen, einen jüdischen Nationalstaat in Israel zu gründen, von Anfang an kritisch. Denn durch diese Staatsgründung sei wieder eine neue Kategorie von Staaten- und Rechtlosen entstanden: die palästinensischen Flüchtlinge, die vertrieben wurden, um den neuen Staat zu gründen.

Der Nationalstaat kann nicht existieren, wenn nicht alle seiner Bürger vor dem Gesetz gleich sind, und kein Staat kann bestehen, wenn ein Teil seiner Einwohner außerhalb aller Gesetze zu stehen kommt und de facto vogelfrei ist.”44

Zwillingsgeburt

Hannah Arendt zeigt, dass durch die ‘Zwillingsgeburt‘ von Menschenrechten und Nationalstaat eine neue ‘Definition’ von Menschheit entstanden ist, die heute wieder hochaktuell ist. ‘Mensch’ ist in einer Welt von Nationalstaaten nur, wer einen Pass vorzuweisen hat, wer Bürger eines Nationalstaates ist.

Die Souveränität des Königs ist zwar auf das Volk übergegangen. Dennoch ist aus den revolutionären Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wieder eine potenzielle Ungleichheit hervorgegangen. Wer gehört zum Volk? Und wer ist er oder sie wenn er/sie nicht (mehr) zu einem bestimmten ‘Volk’ oder zu einer Nation gehört? Oder wer ist er/sie, wenn er/sie einem Volk / einer Minderheit angehört, die keine eigene Nation, keinen eigenen Staat hat?

Entzug der Staatsbürgerschaft

Das Problem der Staatenlosigkeit und der Minderheiten ist sicher nicht mehr so drängend akut wie zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Dennoch sind in Europa immer noch tausende und weltweit Millionen Menschen von Staatenlosigkeit betroffen. Sie sind dazu verdammt, ein Schattendasein zu führen. Für den Rechtsstaat existieren sie praktisch nicht. Sie können offiziell nicht reisen, sich nicht in einem Spital behandeln lassen, nicht heiraten, nicht zur Schule gehen und keiner rechtlich geregelte Arbeit nachgehen.

Staatenlos können Menschen durch fehlende Registrierung bei der Geburt werden, durch Lücken zwischen dem Geltungsbereichen unterschiedlicher Staatszugehörigkeits-Systeme, durch Ausbürgerung, im Laufe eines Bürgerkrieges, durch Vertreibung, Auflösung eines Staates und nicht zuletzt durch den zwanghaften Entzug der Staatsbürgerschaft. Die Praxis des Entzugs der Staatsbürgerschaft wurde von den Nazis im großen Stil an den deutschen Juden und Regimegegner/innen vollzogen.

weltlos

Staatenlose und ‘illegale’ Flüchtlinge werden in einer Welt von Nationalstaaten zu Menschen ohne Rechtsschutz. Sie leben in einem vogelfreien Zustand und sind rassistischen Angriffen und den Tücken des Kapitalismus schutzlos ausgeliefert.

Die Rechtlosigkeit […] entspringt einzig der Tatsache, dass der von ihr Befallene zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört. […] Der Verlust der Menschenrechte findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht […] verloren geht, sondern nur, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann. […] Auch wo ihnen eine noch intakte Zivilisation das Leben sichert, sind sie, politisch gesprochen, lebende Leichname. […] Ihre Unbezogenheit zur Welt, ihre Weltlosigkeit ist wie eine Aufforderung zum Mord, insofern der Tod von Menschen, die außerhalb aller weltlicher Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen, ohne jede Konsequenz für die Überlebenden bleibt.”45

Es ist sicher kein Zufall, dass Hannah Arendt in Bezug auf die Standortlosigkeit der Staatenlosen Heideggers Begriff ‘weltlos‘ verwendete. War es doch dieser Begriff, mit dem Heidegger die Menschheit von der Tierheit abgrenzte.

‘Natalität’ statt ‘sein-zum-Tode’

In Arendts Philosophie ist das ‘In-der-Welt-sein‘ mehr als eine ontologische Bestimmung des Menschen. “Arendt glaubte, dass Heidegger mit seiner grundlegenden Analyse des Menschen als eines ‘In-der-Welt-seienden’ die noch nie dagewesene Möglichkeit für Philosophen geschaffen habe, über das menschliche Handeln und den Bereich der Politik mit größter Genauigkeit nachzudenken.”46

Hannah Arendt denkt hier Heideggers Begriff des ‘In-der-Welt-sein‘ und ‘Mit-sein‘ mit anderen gegen den Strich. Bei ihr wird aus dieser phänomenologischen Grundverfassung eine Voraussetzung für die öffentlich verhandelnde, politische Ausrichtung und ‘Praxis‘ des Menschen.

Handeln als zweite Geburt

Das Handeln ist, so Arendt in ‘Vita Activa‘, wie eine zweite Geburt, es entspricht der menschlichen Bedingtheit der ‘Natalität‘.

Während das ‘Mit-sein’ für Heidegger eine problematische und oft unauthentische Existenzform bleibt [Heidegger spricht diesbezüglich von der ‘Uneigentlichkeit‘ und der ‘Verfallenheit an das Man‘], leben Menschen für Arendt am authentischsten in einer Welt, die sie mit ihresgleichen teilen, mit anderen, mit denen sie sich permanent verständigen und denen sie im Sprechen und Handeln erscheinen.”47

Hannah Arendt denkt die menschliche Existenz von der ‘Natalität‘ her – in ihrer Abhängigkeit von Anderen. Und nicht wie Heidegger, vom ‘Sein-zum-Tode‘ – womit er auf den nihilistischen, christlich-mittelalterlichen ‘Vanitas‘ Gedanken anspielte. Arendt bezieht sich mit ihrem Begriff von politischer Praxis als Verhandlung auf Aristoteles. In dieser Praxis geht es Aristoteles um das ‘gute Leben‘ in der Gemeinschaft / ‘Pólis‘.

Die Struktur des politischen Handelns ist so beschaffen, dass Debatte und Auseinandersetzung ein übergreifendes Engagement für eine bestimmte öffentliche Welt und die Form des Zusammen-seins widerspiegeln, welche sie möglich macht.”48

Verlassenheit

Weltlos‘ wird eine Person dann, wenn ihre Stimme nicht mehr zählt. Wenn sie nicht mehr ihre Position, den Standort in ihrer Welt beeinflussen oder aushandeln kann. Aus ihrer Welt herausgerissen und ortlos umherirrend – spielt ihre Existenz politisch keine Rolle mehr. Denn zum Verhandeln braucht man in der Vielheit von Positionen einen Standpunkt der ‘zählt’, einen Standort in der Gesellschaft.

Als ‘weltlos‘ bezeichnet Arendt aber auch das, durch Krieg, politische Aufstände und Massenarbeitslosigkeit ‘überflüssig’ gemachte und vereinzelte Individuum der totalitär gleichgeschalteten Masse.

“‘Verlassenheit‘ [ein weiterer, aus Heideggers Existenzphilosophie entlehnter Begriff], der gewöhnliche Boden des Terrors, der Wesenskern totalitärer Herrschaft […] ist sehr eng mit Entwurzelung und Überflüssigkeit verknüpft, die seit Beginn der industriellen Revolution die Geißel moderner Massen gewesen ist. […] Überflüssig zu sein heißt, überhaupt nicht zur Welt zu gehören.”49

nacktes Leben?

Aus dem sozialen System heraus gefallen, keiner bestimmten Klasse mehr zugehörig, ohne Identität und ohne durch seinen gesellschaftlichen Standort bestimmte Perspektive ist ein solches, der ‘Verlassenheit‘ ausgesetztes Individuum auch besonders offen und anfällig für ideologische Manipulationen.

Über Landesgrenzen verschoben, von der Polizei verjagt und kriminalisiert, weil ihnen die richtigen Papiere fehlen, und in vielen Fällen des Schutz der Nationalstaaten beraubt, in denen sie geboren wurden, scheinen Menschen genau dann, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben, außer ihrer ‘abstrakten Nacktheit’, ihre gesamten Rechte zu verlieren.”50 Giorgio Agamben spricht in diesem Zusammenhang, vom ‘nackten Leben‘ des ‘Homo Sacer‘.

So-gut-wie-tot

Der lateinische Begriff ‘Homo Sacer‘ bezeichnete in der römischen Antike einen Menschen, der durch den Bruch eines Schwurs dem Tod, oder einem bestimmten Gott geweiht war. Er konnte von jedem straffrei getötet, aber nicht mehr geopfert werden. Er/sie galt als ‘so-gut-wie-tot’ oder ‘eigentlich-schon-tot’.

Homo Sacer‘ bezeichnet also einen ‘friedlosen‘, ‘vogelfreien‘ Menschen, der der Gewalt ohne Schutz ausgeliefert ist. Gegenwärtig könnte man jene Opfer von Terrorbekämpfungsgesetzen als ‘Homo Sacer‘ bezeichnen, die in Guantanamo oder anderen Gefangenenlagern ohne Prozess jahrelang festgehalten werden.

Giorgio Agamben bezieht sich bei seinem Konzept des ‘Homo Sacer‘ auf die Unterscheidung der beiden griechischen Begriffe bíos und zoé. Auch Michel Foucaults Begriff der ‘Biopolitik‘ spielt eine wichtige Rolle in seiner politischen Philosophie. Anders als Foucault selbst, fasst Agamben den Begriff der Biopolitik jedoch ausschließlich repressiv.

Bíos und Zôé

Giorgio Agamben zufolge bezeichnet der Begriff ‘Bíos‘ so viel wie ‘qualifiziertes’, ‘gutes’ oder zivil(isiert)es Leben. ‘Zoé‘ entspricht hingegen der ‘nackten’, einfachen Tatsache des Lebens, welche allen Lebewesen gemeinsam ist. In der Antike wurde die Zeugung des Lebens in einer ‘Einschließenden Ausschließung‘ einverleibt. Das heißt die ‘Zôé‘ wurde aus der politischen Sphäre der ‘Pólis‘ ausgeschlossen während sie gleichzeitig in die Sphäre des Haushalts eingeschlossen wurde. Dadurch wurde aus männlichem, nicht versklavten, zur Gemeinschaft gehörigem ‘nackten Leben‘ ‘gutes Leben‘. Andererseits rückte, so Agamben, in der Moderne gerade das nackte Leben durch den Ausnahmezustand ins Zentrum des Kalküls der Biopolitik.

Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht die uralte Einschließung der Zôé in die Pólis; noch einfach die Tatsache, dass das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und der Voraussicht wird; entscheidend ist vielmehr, dass das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozess, der durch die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluss und Einschluss, Außen und Innen, Zôé und Bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Unentscheidbarkeit geraten.”51

Souveränität und Ausnahmezustand

Die ‘Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich‘ bilde den ‘verborgenen Kern‘ der Souveränität. Giorgio Agamben bezieht sich dabei auf Carl Schmitts Definition der Souveränität: “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.52

Die ‘Politisierung des nackten Lebens‘ oder ‘Biopolitik‘ wird von Agamben als das entscheidende Ereignis der Moderne dargestellt. In ihrer beunruhigendsten, grausamsten Übersteigerung wurde sie schließlich von den Nazis in den Konzentrationslagern praktiziert. Eine Seite später schreibt Agamben jedoch, dass Biopolitik ‘mindestens so alt wie die souveräne Ausnahme‘ sei.

Indem der moderne Staat das biologische Leben ins Zentrum seines Kalküls rückt, bringt er bloß das geheime Band wieder ans Licht, das die Macht an das nackte Leben bindet.”53 Was das nackte Leben ‘ins Zentrum des Kalküls‘ rückt, ist, so Agamben, der Ausnahmezustand.

Zôon politikon

Jacques Derrida macht in seiner Kritik an Giorgio Agamben darauf aufmerksam, dass die griechische Unterscheidung zwischen Zôé und Bíos nie so klar und eindeutig war. Die Tatsache, dass Aristoteles den Menschen gerade als ‘zôon politikon‘ bezeichnete, weist, so Derrida, darauf hin, dass schon er es für möglich gehalten hat, “dass in bestimmten Fällen, dem des Menschen, die Politik, die Polizität das nackten Leben (Zôé) qualifizieren, sich seiner bemächtigen kann, und dass also schon Aristoteles auf seine Art hätte erfassen oder qualifizieren können, was Foucault oder Agamben der modernen Spezifität attribuieren [dass es so etwas wie ‘Biopolitik’ gibt, oder dass das nackte Leben zum Einsatz der Politik werden kann].”54

Aristoteles bezeichnete den Menschen als ‘zôon politikon‘ / ‘politisches Lebe(wese)n’ (und nicht ‘bios politikon‘). Foucault nannte das Eingreifen des modernen Staates in das Leben der Individuen gerade ‘Biopolitik‘ (und nicht etwa ‘Zoo-politik’). Dies zeige, so Derrida, dass die Begriffe ‘Bíos‘ und ‘Zôe‘ mehr oder weniger synonym verwendet wurden. Dennoch baue Giorgio Agamben auf dieser Unterscheidung seine ganze Konzeption des ‘Homo Sacer‘ – des rechtlosen, nackten, gefährdeten Lebens – auf.

Derrida zweifelt also, dass das, was in der Moderne ‘neu’ sein soll – wie Agamben behauptet – die ‘Biopolitik‘ sei. Dies bedeute allerdings nicht, dass es innerhalb der Biopolitik nichts Neues gibt. Derrida fordert deshalb – zumindest in Bezug auf die Biopolitik – ‘auf die Idee eines Gründungsereignisses der Moderne zu verzichten‘.

Krieg gegen den Terror

Der Anlass für die Reaktualisierung des Begriffs des ‘Ausnahmezustandes’ in der postmodernen politischen Philosophie war der von George W. Bush nach dem 11. September 2001 ausgerufene ‘Krieg gegen den Terror‘. Dieser rechtfertigt – wie schon zuvor der ‘Krieg gegen die Drogen’ – unzählige Menschenrechtsverletzungen.

Während die Politik der Terrorismusbekämpfung in zahlreichen Ländern schon lange vor 2001 zu Menschenrechtsverletzungen geführt hatte, hatte der von den USA eingeleitete ‘Krieg gegen den Terror’ weltweite Auswirkungen. Er hat die Rechtsstaatlichkeit untergraben und stellt den Schutz der Rechte weltweit in zahlreichen Ländern heute vor erhebliche Herausforderungen.55

Ein Terroranschlag ist nicht nur ein furchtbares Trauma für alle, die überlebt oder Angehörige verloren haben, sondern auch ein Anschlag auf die Existenzgrundlage des Sicherheitsstaates.

Ausnahmezustand für die Menschenrechte?

Deshalb rechtfertigt der Terrorismus aus der Sicht der Regierung den Ausnahmezustand, der wiederum die Missachtung grundlegender Menschenrechte rechtfertigt. Terrorverdächtigen wird die Staatsbürgerschaft und damit alle Bürgerrechte entzogen. Staaten wie Afghanistan oder Pakistan werden von den USA Unsummen angeboten, wenn sie ihre ‘Terrorverdächtigen’ ausliefern.

Oft sind es Unschuldige, die einfach ‘verschwinden’, das heißt aus ihrer Stadt entführt und von ihrem Staat verkauft werden. In ‘Guantanamo‘ oder in anderen Folterlagern werden diese Opfer der Terrorbekämpfung jahrelang ohne Prozess festgehalten, nur damit der Krieg gegen den Terror erfolgreich seine Schuldigen vorweisen kann. Der Krieg gegen den Terror fordert mittlerweile unverhältnismäßig mehr Opfer als weltweit an Terroranschlägen ums Leben gekommenen sind.

Ausweitung des Begriffs ‘Terrorist’

In Indien wird der Kampf gegen den Terrorismus nicht nur ausgenützt, um die muslimische Minderheit zu terrorisieren. Der Begriff ‘Terrorismus’ wird auch auf andere Konflikte ausgedehnt.

Der Terrorismus hat im heutigen Indien viele vergessene Gesichter. Überall im Land fordern viele gewaltsame Konflikte einen blutigen Tribut. In Chhattisgarh wurden mehr als 100.000 Menschen vertrieben, mehr als 1.000 starben. Tausende wurden unter ‘Salwa Judum‘ (einer umstrittenen Kampagne, um maoistischen Sympathisanten und Anhängern entgegenzutreten) inhaftiert. Terror und Gegenterror gehen unvermindert weiter.

In Assam und Nagaland haben die Not, Verzweiflung, Furcht und Entfremdung der Menschen zugenommen, während die Regierung entschlossen wegsah. […] Wir haben eine Fülle von Antiterrorgesetzen und Maßnahmen im Land. Diese haben jedoch weder dazu beigetragen, den Terrorismus zu stoppen, noch unsere Lage sicherer zu machen. Nichts, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist, zeigt, dass die staatliche Terrorismusbekämpfung funktioniert.56

Auch Menschenrechts-Aktivisten schweben in Staaten wie Chhattisgarh, Bihar oder Assam in Todesgefahr. Die Polizei und das Militär werden durch Sonderregelungen zur Bekämpfung des Terrorismus autorisiert, ‘Terrorverdächtige’ immer brutaler zu foltern.

Menschenrechte sind kein Luxus

Wird dieser ‘Bestialisierungstendenz‘ der staatlichen Behörden einmal unter besonderen Umständen stattgegeben, so steigert sie sich unaufhörlich. Die zugelassenen ‘Verhörmethoden‘ werden immer grausamer und greifen immer weiter um sich. Auch Menschen, die normale Verbrechen begangen haben, oder gewaltlos Widerstand leisten, werden immer öfter wie rechtlose Terrorverdächtige behandelt.

Der einzige wirksame Schutz vor Folter und Entrechtung wäre, jedes einzelne Individuum so zu behandeln, dass seine Grundrechte gewahrt bleiben. Keine Regierung, keine Gruppe, kein Individuum darf sich herausnehmen, einem Einzelnen diese Rechte abzuerkennen. Denn Menschenrechte sind kein ‘Luxus’ für gute Zeiten.

Totalitäre Tendenzen

Die Begriffe ‘Terrorist’ und ‘Terrorismus’ werden immer inflationärer gebraucht. So schleicht sich mit diesen ‘Ausnahmezuständen‘ allmählich wieder total(itär)e Willkür in die Politik von demokratischen Staaten ein.

Viele Staaten haben nationale Gesetze mit vagen, unklaren oder überzogenen Definitionen des Terrorismus verabschiedet. Diese zweideutigen Definitionen haben zu unangemessenen Einschränkungen der legitimen Ausübung grundlegender Freiheiten wie der Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie der friedlichen und sozialen Opposition geführt. Einige Staaten haben gewaltfreie Aktivitäten in ihre nationalen Definitionen des Terrorismus aufgenommen.57

Hat die Geschichte ein Ziel?

Der Autor Samuel Moyn kritisiert in ‘The Last Utopia. Human Rights in History‘, die apologetische Darstellung der ‘Entwicklung’ der Menschenrechte. Im teleologischen Stil werden diese als Emergenz der abendländischen Geistesgeschichte dargestellt. So, als wäre alles auf dieses Ereignis der Menschheitsgeschichte hinausgelaufen.

Zeitgenössische Historiker haben eine feierliche Haltung gegenüber der Entstehung und dem Fortschritt der Menschenrechte eingenommen. [Sie liefern] den jüngsten Enthusiasten erbauliche Hintergrundgeschichten […] und [unterscheiden] sich vor allem darin, ob sie den wahren Durchbruch bei den Juden, Griechen, mittelalterlichen Christen oder frühneuzeitlichen Philosophen, demokratischen Revolutionären oder Helden der Abschaffung der Sklaverei, amerikanischen Internationalisten oder antirassistischen Visionären suchen.58

Es handelt sich bei solchen retrospektiv entworfenen ‘Erfolgsgeschichten’ um reine Projektionen moderner Intentionen in die Vergangenheit. Darüber hinaus wird dadurch meist auch noch der Eindruck noch verstärkt, dass die Deklaration der Menschenrechte ein eurozentrisches Projekt sei.

Eine solche Perspektive, die die Vergangenheit als Vorbereitung auf ein neues Ereignis interpretiert, verzerrt nicht nur die Wahrnehmung der Vergangenheit sondern verstellt auch den Blick auf das gegenwärtige Ereignis. Die Menschenrechte werden als selbst evidente Erkenntnis dargestellt. Als hätten sie sich als Antwort auf den Holocaust, langsam aber stetig, immer tiefer in das menschliche Bewusstsein eingeprägt.

Letzte Utopie?

Die Idee, dass es an der Zeit wäre, ‘allgemeine Menschenrechte‘ zu deklarieren ist jedoch nicht der Kulminationspunkt einer historischen Entwicklung. Die Menschenrechte sind vielmehr zu einem Zeitpunkt aufgetaucht, als alle anderen Utopien einer gerechten Welt bereits in sich zusammengefallen waren.

Menschenrechte sind, so Samuel Moyn, die letzten ‘Überlebensreste‘ der revolutionären Visionen von Freiheit und Gerechtigkeit. Dies werde auch daran deutlich, dass den Menschenrechten in den ersten zwanzig Jahren ihrer Existenz wenig Beachtung geschenkt wurde. Dies war die der Zeit der Wohlfahrtsstaaten in Europa – vor dem Aufstieg des Neoliberalismus.

Erst in den 1970er Jahren wurden sie als moralische Meilensteine ‘entdeckt’. Seitdem wurden sie international zum (Lippen-)Bekenntnis der Vertreter fast aller Staaten.

Es besteht ein klarer und grundlegender Unterschied zwischen den früheren Rechten, die alle auf der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft beruhen, und den späteren ‘Menschenrechten’. Wenn dem so ist, dann müssen die ‘Droits de l’homme’, die die frühneuzeitliche Revolution und die Politik des neunzehnten Jahrhunderts angetrieben haben, streng von den in den 1940er Jahren geprägten ‘Menschenrechten’ unterschieden werden, die in den letzten Jahrzehnten so attraktiv geworden sind. Das eine beinhaltete eine Politik der Staatsbürgerschaft zu Hause, das andere eine Politik des Leidens im Ausland.”59

Überleben statt gut leben?

Im Zeitalter der Globalisierung des Neoliberalismus haben, die Menschenrechte nur noch die Sicherung der minimalsten Bedürfnisse des Überlebens zum Ziel. Auf diese Weise ‘stören’ sie in keinster Weise das immer größer werdende globale Ungleichgewicht. Menschenrechte sind kein Gegenmittel gegen die immer gigantischer werdenden Unterschiede zwischen den Reichsten und Ärmsten dieser Welt.

Selbst wenn soziale Rechte durch die Einforderung der Menschenrechte verwirklicht werden könnten. Das Ideal der gerechten Verteilung hat damit gleichzeitig ausgedient.

Menschenrechte, die darauf ausgerichtet sind, genug für alle zu sichern, sind wesentlich – aber sie reichen nicht aus. […] Hinlänglichkeit betrifft die Frage, wie weit eine Person davon entfernt ist, nichts zu haben, und wie gut es ihr in Bezug auf ein Minimum an Versorgung mit den guten Dingen des Lebens geht. Gleichheit betrifft die Frage, wie weit die Einzelnen in Bezug auf den Anteil der guten Dinge die sie bekommen, voneinander entfernt sind.60

Nicht nur ein Sicherheitsnetz gegen die lebensbedrohliche Unterversorgung ist heute notwendig, sondern eine Obergrenze der Ungerechtigkeit. Die Bedeutung der Menschenrechte sei langsam gestiegen. Doch gleichzeitig sei die Hoffnung auf globale Gerechtigkeit und die Ambition, sie zu verwirklichen gesunken.

Autorin: Eva Pudill

>> LITERATUR

Geschätzte Lesezeit: 46 Minuten

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