Satyagraha

Die Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Kolonialmacht hat durch Mohandas Karamchand (Mahatma) Gandhis gewaltfreien Widerstand in Indien eine ganz besondere Prägung erhalten. Gandhis Weg des gewaltlosen Widerstandes begann schon während seines Exils in Südafrika. Aus seinen Erfahrungen mit der Apartheid entstand das politische Konzept des gewaltfreien Widerstandes: Satyagraha (das Festhalten an der Wahrheit).

Der Aufstieg Gandhis zur prägenden Figur der indischen Unabhängigkeitsbewegung und der Übergang von der Kampfform der gewaltsamen Attentate [im frühen Unabhängigkeitskampf etwa von Vinayak Savarkar und Barindra Ghosh, dem jüngeren Bruder von Aurobindo Ghose befürwortet und ausgeführt] zur Massenbewegung mittels gewaltfreier Aktion ist […] undenkbar ohne die Auseinandersetzung mit den ‘anarchistischen Attentätern’ die Gandhi in den Jahren bis 1918 auf vielerlei Weise führte.”1

Gewaltloser Widerstand

Auch Nelson Mandelas Befreiungskampf gegen die Apartheid und Martin Luther Kings Kampf gegen den Rassismus in den USA wurde von Mohandas Karamchand Gandhis’ Satyagraha-Konzept beeinflusst. Nur gewaltloser Widerstand kann, so Gandhi, die Gewaltspirale, die gewöhnlich durch eine Revolution oder einen Befreiungskampf ausgelöst wird, durchbrechen. Durch gewaltloses Kommunizieren und Agieren gelang es Gandhi und der Kongress-Bewegung, die Weltöffentlichkeit auf das Unrecht der Kolonisation zu lenken.

Wie Patañjali in Bezug auf die Yama und Niyama, spricht auch Gandhi in Bezug auf Satyagraha von einem Gelübde, dem zu folgen eine sehr hohe Integrität und mentale Stärke erfordert: “Ein perfekter Satyagrahi muss fast, wenn nicht vollkommen, ein perfekter Mensch sein.”2 Gandhi richtet sich mit dieser Aussage gegen den Vorwurf der rechten Nationalisten, ‘passiver Widerstand’ sei schwach, ‘weibisch’ bzw. ‘unmännlich’.

Aktiver Widerstand

Gandhi selbst hat nie vom ‘Passiven Widerstand’ gesprochen, denn Satyagraha ist eine aktive Widerstandsform, die viel Mut erfordert. Die Schwierigkeit der gewaltlosen Einstellung besteht darin, in einem Konflikt die Haltung zu bewahren. Der Satyagrahi darf sich nicht in den emotionalen Sog der Vergeltung hineinziehen lassen. Vielmehr soll die andere Konfliktpartei erkennen, dass sie mit ihren gewaltsamen Mitteln im Unrecht ist. Dies gilt sowohl für bloß verbale Provokationen, als auch für bewaffnete Konflikte.

Während es sehr leicht ist, Menschen, die mit brutaler Unterdrückung konfrontiert sind, zu überzeugen, sich in einem selbstmörderischen Angriff gegen ihren Unterdrücker zu wehren, ist es fast unmöglich, sie dazu zu bewegen, tödliche Gewalt mit gewaltlosem Widerstand zu begegnen.”3

Sobald es der gewaltsamen Konfliktpartei gelingt, der gewaltlos eingestellten Partei auch nur die geringste gewaltsame Reaktion zu entlocken, verliert die vormals gewaltlos eingestellte Partei ihre Glaubwürdigkeit. Sie begibt sich damit auf die selbe Stufe wie die gewaltsame Partei.

Verhältnis von Ahimsa und Satya

In welchem Verhältnis stehen im Satyagraha-Konzept Gandhis nun die beiden Yamas Ahimsa und Satya zueinander? Bei Gandhi steht Wahrheit vor Ahimsa.

Die vier ersten Gelübde von Satyagraha sind:

  • 1. Satya (Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit)
  • 2. Ahimsa (Liebe, Abwesenheit der Intention zu verletzen – aus Mitgefühl)
  • 3. Brahmacharya (bei Gandhi: sexuelle Enthaltsamkeit, denn er wollte seine gesamte Energie der spirituellen Entwicklung der Menschheit widmen),
  • 4. Aparigraha (bei Gandhi: Besitzlosigkeit).

Ein Gelübde bedeutet für Gandhi: “um jeden Preis etwas zu tun, was man tun sollte [was man für richtig hält]”. Satyagraha ist demnach eine ethisch-politische Haltung, die an ‘Satya‘, das heißt an Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit festhält. Und zwar auch auf die Gefahr hinaus, dafür im Gefängnis zu landen oder andere Repressionen zu erdulden.

Ziviler Ungehorsam

Weitere Mittel im gewaltlosen Widerstand gegen die Kolonialmacht waren: Nicht-Kooperation oder positive Verstärkung. ‘Disobedience‘ definierte Gandhi als ‘Kooperation mit allem, was nicht schlecht‘ ist. Dazu gehörte auch Fasten und schließlich ziviler Ungehorsam, wenn Verhandlungen gescheitert sind. Die Verweigerung der Kooperation mit der Britischen Kolonialregierung wurde auch zum Namensgeber der Unabhängigkeitsbewegung. Die Nicht-Kooperations-Bewegung entstand offiziell mit dem Salzmarsch in Gujarat 1929.

Veränderung des Bewusstseins

Bei all diesen politischen Druckmitteln geht der Satyagrahi immer mit Freundlichkeit und ohne Hass vor. Er oder Sie versucht, das Individuum, mit dem er gerade zu tun hat, mit Einfühlung auf seine/ihre Seite zu ziehen. “Ich kann die größte Liebe mit dem stärksten Widerstand gegen Unrecht vereinen.” (M. K. Gandhi). Intention dieser Haltung ist es, das Bewusstsein des Gegenübers zu verändern, statt ihn oder sie zu etwas zu zwingen.

Durch die Bereitschaft, des Satyagrahi, das vom Gegner auferlegte Leid willig zu akzeptieren, soll der Gegner von selbst erkennen, dass er ein Ziel verhindert, das für das Wohl aller richtig und wichtig ist. Wenn er/sie es selbst nicht erkennt, wird er oder sie durch die öffentliche Meinung dazu gedrängt.

Satyagraha war idealistisch, aber gleichzeitig auch sehr praktisch. Es war eine Quelle der Macht für ein Volk, das weder Waffen noch Reichtum besaß. Es gab den Briten keine Möglichkeit, ihre gewaltsame Unterdrückung zu rechtfertigen.4

Instrumentalisierung von Ahimsa?

In Bezug auf das Verhältnis von Ahimsa und Satya lässt sich folgern:

Ahimsa ist in der Satyagraha-Haltung das Mittel,

Satya (Wahrheit, hier im Sinne von Rechtmäßigkeit) ist das Ziel.

Diese ‘Instrumentalisierung’ des Prinzips der Gewaltlosigkeit ist vielleicht der Preis, der für die Politisierung des Begriffs Ahimsa gezahlt werden musste. Doch Gandhi war davon überzeugt, dass der gewaltlose Weg, durch den die Befreiung errungen wird, die Zukunft des befreiten Landes selbst bestimmen würde.

Gewaltlosigkeit ist weder ein Mittel zum Zweck noch ein Ziel an sich. Es ist vielmehr eine Technik, die sowohl eine instrumentelle Logik als auch jedes teleologische Entwicklungsschema übertrifft – es ist eine unberechenbare Technik, die wohl nicht regulierbar ist.“5

Politisches Spannungsfeld

Jede Neu-Formierung einer politischen Landschaft zeitigt auch auf intellektueller Ebene ihre Wirkung. Die Vergangenheit wird aus einer neuen Perspektive wahrgenommen, das kollektive Gedächtnis erfährt eine Transformation. Um Gandhis Strategie des gewaltlosen Widerstandes besser einschätzen zu können, ist es notwendig, das politische Spannungsfeld in dem er wirkte, über die indischen Grenzen hinaus zu umreißen.

Dekolonisation und Religion

Nicht nur in Indien begann sich am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts der Widerstand gegen die Kolonialmächte zu organisieren. Auch in der Türkei im Nahen Osten und Nordafrika begann die Dekolonisation. Neue Nationalstaaten entstanden, und mit ihnen kam auch ein neues Phänomen auf: Der religiös verbrämte Nationalismus. Er lässt sich als kulturelle Abgrenzungsreaktion auf den abwertenden kolonialen Diskurs in allen kolonisierten Ländern beobachten.

Spezialfall Indien

Speziell in Indien war eine der großen Schwierigkeiten der Widerstandsbewegung, die Religionsgemeinschaften und Provinzen zu einem freien Staat zu einen. Denn erst durch die britische Kolonisation war Indien zu jener Staatengemeinschaft herangewachsen, deren Größe und Vielfalt einem den Atem raubt. Mit der Dekolonisierung wurde Indien schließlich zur ‘größten Demokratie der Welt‘.

Tagores Kritik am Nationalismus

Gleichzeitig mit der Unabhängigkeitsbewegung entstand auch in Indien der religiös geprägte Nationalismus. Dieser wurde von vielen Intellektuellen unterstützt. Von anderen, wie dem bengalischen Dichter, Komponisten, Choreographen, Maler, Philosophen und kosmopolitischen Sozialreformer Rabindranath Tagore, wurde der Nationalismus hingegen schon sehr früh kritisch betrachtet.

Rabindranath Tagore war zunächst begeisterter Anhänger der ‘Swadeshi‘Bewegung. Diese Bewegung rief zum Boykott britischer Waren und zum Kauf ausschließlich indischer Produkte auf. Doch die Swadeshi Bewegung begann allmählich, repressiv zu werden. Menschen, die sich aus Gründen des ökonomischen Überlebens nicht am Boykott beteiligen konnten, wurden terrorisiert. Als die Swadeshi-Bewegung in Bengalen zunehmend gewalttätig wurde, wandte sich Tagore desillusioniert von ihr ab.

Tagore hinterfragte nicht nur die nationalistische Bewegung und deren Gewaltbereitschaft. Er sah auch die Idee der ‘Nation‘ als solche kritisch.

Eine Nation im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Union eines Volkes ist jener Aspekt, den eine ganze Bevölkerung annimmt, wenn sie zu einem mechanischen Zweck organisiert ist. Die Gesellschaft als solche hat keinen hintergründigen Zweck. […] Sie ist ein spontaner Selbstausdruck des Menschen als soziales Wesen.”6

Artifizielle Einheit aus dem politischen Labor

Deshalb sei die Macht der Nation als ‘artifizielle Einheit‘ zu abstrakt. Sie löse den spontanen Zusammenhalt der Menschen und das Verantwortungsgefühl des Individuums für die Gemeinschaft auf. Stattdessen bestärke sie den Egoismus von Einzelnen und Gruppen. Sie zwingt die Subjekte unter ihre abstrakten bürokratischen Regelmechanismen, um die Massen regierbar zu machen.

Wenn diese Organisationsmaschine beginnt, eine gewaltige Größe zu erreichen, und diejenigen, die Mechaniker sind, zu Teilen der Maschine gemacht werden, dann wird der persönliche Mensch zu einem Phantom eliminiert, alles wird zu einer Revolution der Politik, die von den menschlichen Teilen der Maschine durchgeführt wird, ohne ein Fünkchen Mitleid oder moralische Verantwortung. […] Dieses abstrakte Wesen, die Nation, herrscht in Indien.”7

Globalisierungskritiker avant la lettre?

Rabindranath Tagore sah schon sehr früh voraus, dass die Formation von Nationen Hand in Hand geht mit dem Erstarken des ungeregelten Kapitalismus. In deren Zusammenschluss zu immer größeren Einheiten sah er den ersten Schritt zu einer globalisierten Wirtschafts-Diktatur.

Die Nation sei ein Wohlstands-produzierender Mechanismus, der alle nicht-ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft außer Acht lasse. Doch für Tagore gehört zum Mensch-Sein auch die nonkonformistische Kreativität und Spontaneität. Die Freiheit des/der Einzelnen, bestehe auch darin, sich über Gruppennormen und Traditionen hinwegzusetzen und eine ganz eigene Weltsicht zu entwickeln.

Im Gegensatz zu anderen indischen Intellektuellen, und bis zu einem gewissen Grad auch anders als Gandhi, lehnte Tagore die [europäische] Aufklärung nicht ab, sondern strebte eine Verschmelzung der besten indischen und europäischen Traditionen an. […] Für Tagore war vor allem die Kunst der entscheidende Entwicklungsmotor.”8

Dekolonisierung im arabischen Kulturraum

Auch im Arabischen Kulturraum führte die Dekolonisierung zu einer Verbindung von Nationalismus und Religion. Zusätzlich zur tiefgreifenden Transformation durch die Dekolonisierung war hier durch den Zerfall des Osmanischen Reiches ein religiöses Macht-Vakuum entstanden. Das Osmanische Reich erstreckte sich immerhin zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Süd-Osteuropa bis zum Roten Meer, vom Kaukasus bis Nordafrika. Es hatte einen weltlichen Herrscher, den Sultan, und einen religiösen Herrscher, den Kalifen. Der religiöse Einfluss und die einigende Macht des Kalifen war demnach groß. Die Tradition des Kalifentums ist fast so alt wie der Islam selbst.

Kalifat

Den Höhepunkt seiner Macht hatte das Kalifentum jedoch im Mittelalter, als der Kalif als Stellvertreter des Propheten Mohammed betrachtet wurde. In dieser Blütezeit des Islam war der Kalif gleichzeitig weltlicher und religiöser Herrscher. Später verlor der Kalifen-Titel dagegen immer mehr an Bedeutung. Im Osmanischen Reich war ‘Kalif‘ schließlich mehr oder weniger nur noch ein formal-symbolischer Titel, ohne weltliche Macht, die der Sultan innehatte.

Das Osmanische Reich wurde immer weiter territorial beschnitten. Durch Handelsverträge wurden die ehemaligen Gebiete des Osmanischen Reiches den Interessen der europäischen Mächte unterworfen. Erst die Auslöschung des Kalifats als Panislamisches Symbol rief die Entstehung einer bewusst auf die islamische Identität rekurrierenden politischen Bewegung hervor.

So wurden bereits im neunzehnten Jahrhundert die Ansätze des Identitätskonfliktes zwischen islamischer Tradition und westlicher Moderne sichtbar, die im zwanzigsten Jahrhundert in vollem Ausmaß zum Tragen kommen. Der Blick auf die Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts zeigt, wie sehr die ideologischen Auseinandersetzungen von Kollisionen materieller Interessen bestimmt waren.”9

Dieses Phänomen der Politisierung der Religion war auch eine Reaktion der kolonialisierten Kulturen auf den abwertenden Diskurs der Kolonialmächte. Edward Said zeigte, wie sich jahrhundertealte Vorurteile unter dem Deckmantel der kolonialen Pseudowissenschaft des ‘Orientalismus‘ erhalten konnte.

Orientalismus

Die Agenda der orientalistischen Disziplin sei es gewesen, Wissen über die kolonialisierten Länder zu sammeln. Dieses administrative Wissen sollte dabei helfen, sie besser kontrollieren und ausbeuten zu können. Orientalismus ist, so Edward Said, eine ‘Wissenschaft’ voll von Vorurteilen aus dem Mittelalter der Kreuzzüge. Denn die orientalistischen Disziplinen stellten die Kulturen der kolonialisierten Länder auf eine Weise dar, die keinen Zweifel an der Notwendigkeit ihrer Governance aufkommen ließ.

Das Argument auf seine einfachste Form reduziert, war klar, präzise, zu fassen. Es gibt Abendländer, und es gibt Orientalen. Erstere dominieren, letztere müssen dominiert werden, was in der Regel bedeutet, dass ihr Land besetzt, ihre inneren Angelegenheiten streng kontrolliert, ihr Blut und ihre Schätze der einen oder anderen westlichen Macht zur Verfügung gestellt werden.10

Politisierung der Religion

Dieser Diskurs sollte beweisen, dass die Kolonien ohne ‘Hilfe’ der Kolonialmacht gar nicht fähig wären, moderne, demokratische Nationen zu bilden. Darüber hinaus zeigte Edward Said, wie diese Vorurteile bis heute – gerade in Zeiten allgemeiner Terrorangst – weiter wirken. Dass gerade der Vorurteil-beladene orientalistische Diskurs die Politisierung der Religion bewirkt hat, verdeutlicht einmal mehr die fatale Wirkung von Vorurteilen. Gegenwärtig hat genau diese Politisierung der Religion wieder zu einer Welle der Radikalisierung der religiös-kulturellen Abgrenzung geführt.

Die Religion diente auch schon während der Dekolonisierung den kolonialisierten Ländern dazu, sich von der aufoktroyierten Kultur der Kolonialmächte abzugrenzen. Deshalb kam es in vielen dekolonisierten Ländern zu den unterschiedlichsten und komplexesten Verbindungen zwischen Nationalismus, mancherorts auch Sozialismus und Religion.

Länder und Nationen gab es selbstverständlich seit unvordenklichen Zeiten […] Indes waren Länder und Nationen bis dahin noch nie als etwas betrachtet worden, das entweder die Grundlage für Gruppenidentität oder die Legitimitätsinstanz für politische Macht darstellen könnte.”11

Auch in Indien kam es zu einer Politisierung der Religion. Dies geschah sowohl aufseiten der Hindu-Nationalisten, als auch aufseiten mancher Gruppierungen der Muslim-Minderheit. Die starke Polarisierung der Religionsgemeinschaften hatte in Indien unter anderem demokratiepolitische Hintergründe. Die britische Kolonialmacht hatte mit der ‘Morley-Minto-Reform‘ ein neues Wahlsystem mit separaten Wahlkreisen für Muslime und Hindus eingeführt. Außerdem wurde die Muslimische Elite durch die Gründung muslimischer Bildungseinrichtungen einseitig unterstützt.

Divide and Rule

Diese Teilungspolitik der Britischen Kolonialregierung war eine Reaktion auf die immer stärker werdende, hinduistisch dominierte, Kongress-Bewegung. Durch den ‘Council Act‘ von 1909 (‘Morley-Minto Reformen‘) kam der Religionszugehörigkeit jedoch eine übertriebene Bedeutung als identitätsstiftende Instanz zu.

In Indien war die Situation ohnehin schon viel komplexer als im Arabischen Raum. Denn hier herrschte nicht wie in den meisten arabischen Ländern, nur eine einzige Religion vor. Vielmehr war und ist es gerade die einzigartige Religionsvielfalt, die Indien so besonders macht. Neben der ‘Hindu‘ Mehrheit, existierte eine große Muslim-Minderheit, sowie viele andere kleinere Religionsgemeinschaften (Sikhs, Parsi, Buddhisten, Jains, Christen, Juden).

Darüber hinaus war die Indische Muslim-Gemeinschaft auch noch in sich gespalten. Im Süden waren die Muslime in der Minderheit, und darauf angewiesen vom Staat beschützt zu werden. Sie waren daher eher daran interessiert, an der Macht im Staat zu partizipieren. Im Norden hingegen, vor allem im Punjab und in Bengalen, bildeten Muslime die Mehrheit und tendierten eher zu Separatismus.

Muslim League

Muhammad Ali Jinnah hatte jahrzehntelang versucht, die beiden Lager unter der All-India Muslim League zusammenzubringen. Der liberale Ali Jinnah, stand zu Beginn seiner politischen Karriere der Kongress-Bewegung nahe. Er verfolgte dieselben Ziele: ein geeintes Indien, vollständig befreit von der Britischen Kolonialmacht.

Die Britische Kolonial-Regierung hatte immer wieder versucht, Indien zu spalten, um in Delhi an den Hebeln der Macht bleiben zu können. Deshalb wurde einzelnen Provinzen wurden Privilegien oder sogar Selbstverwaltung versprochen. Die Muslim-Mehrheit im Norden Indiens unterstützte diese Teilungsversuche darüber hinaus indirekt durch ihre provinziellen politischen Interessen. Die Kongress-Bewegung war hingegen sehr darauf bedacht, alle Religionsgemeinschaften im Unabhängigkeitskampf zu vereinen.

Gandhis Unterstützung der Kalifat-Bewegung

Mohandas Karamchand Gandhi spielte für die Kongress-Bewegung als Integrations-Figur eine wichtige Rolle. Durch seine Satyagraha Haltung war ihm gerade dieser Zusammenschluss immer wieder gut gelungen. 1919 ist Gandhi bei diesem Versuch der Integration jedoch scheinbar zu weit gegangen. Seine Unterstützung der muslimischen Kalifat-Bewegung brachte ihm scharfe Kritik ein.

Nach dem Massaker von Amritsar hatte Gandhi versucht, die Indischen Muslime für den gemeinsamen Unabhängigkeitskampf zu gewinnen. Die Kalifat-Bewegung war aus der Solidarisierung der Indischen Muslime mit dem osmanischen Kalifen entstanden. Ein Teil der indischen Muslime sehnten sie sich immer noch nach einer symbolischen Identifikationsfigur. Darüber hinaus war durch die Absetzung des osmanischen Kalifen durch die Alliierten 1919 ein Macht-Vakuum entstanden. Auch die Unterstützung Kemal Atatürks durch die Briten empörte einige Gruppierungen unter den Indischen Muslimen.

Allerdings wurde der Bezug auf das Kalifat in der Islamischen Welt eher von radikaleren Traditionalisten bemüht. So wollte etwa auch die 1928 gegründete, sehr traditionalistische, Ägyptische Muslim-Bruderschaft das Kalifat wiederbeleben. Auch Ali Jinnah warf Gandhi vor, ‘religiöse Eiferer’ unterstützt zu haben. Dadurch habe er das Muslim-Lager in Indien noch weiter gespalten.

Tagore’s Vision

Auch Rabindranath Tagore kritisierte Gandhi für diese Allianz. Als Wirkung dieser ‘Verbindung von Rebellion und Religion‘ fürchtete eine ‘Orgie des Schreckens‘. Kurz darauf trat diese auch wirklich ein. 1921, zwei Jahre nachdem Gandhi sich mit der Kalifat-Bewegung solidarisiert hatte, ereignete sich in Süd-Indien eine gewaltsame Revolte der ‘Mappilas‘. Die Mappilas in Kerala rebellierten gewaltsam gegen Hinduistische Landbesitzer und Geldleiher.

Erste Anzeichen einer Teilung

Jinnah gelang es schließlich immer weniger, die Muslime im Punjab und in Bengalen in seine All-India Muslim League zu integrieren. Dies war ebenfalls wiederum eine Folge der Morley-Minto Reformen. Die Abtrennung eines eigenen Staates für die Muslime erschien ihm und der Kongress-Bewegung deshalb unausweichlich.

Die subkontinentale kommunale Teilung als Ansatzpunkt nutzend, war es der Kongress-Bewegung 1947 nicht nur gelungen, die Ansprüche der Muslim League zu beschneiden, sondern auch das Erbe des kolonialen Staatsapparats anzutreten, um die Zentralgewalt über die Regionen durchzusetzen.”12

So geschah es, dass die Kongress-Bewegung, die immer für ein geeintes Indien gestanden war, plötzlich der Teilung des Landes zustimmte. Hier wird deutlich, dass M.K. Gandhi nicht immer mit der Politik der Kongress-Bewegung übereinstimmte. Denn er hatte sich bis zum Schluss gegen die Teilung Indiens ausgesprochen.

Gandhi’s Untergang

Als die Unabhängigkeit in greifbare Nähe rückte, schockierte Bapuji [M.K. Gandhi] viele Menschen, weil er Lord Louis Mountbatten, dem letzten Generalgouverneur und Vizekönig Indiens, vorschlug, Jinnah zum ersten Premierminister des unabhängigen Indiens zu machen. Bapuji meinte, damit könne man das Vertrauen der Muslimischen Minderheit gewinnen und die Einheit des Landes bewahren.”13

Erste Radikalisierungswelle

Doch dieser Vorschlag kam zu spät. Gandhis gewagter Versuch, in letzter Minute die Teilung zu verhindern, scheiterte. Durch die Teilung wurde Muhammad Ali Jinnah zum Generalgouverneur von Pakistan. Darüber hinaus wurden im Laufe der Teilung Indiens sowohl Hindus als auch Muslime zu Opfern gewalttätiger Gruppen in Indien, Pakistan und Ost-Pakistan (heute Bangladesch). Dabei starben eine Million Menschen, 20 Millionen wurden in die Flucht getrieben. Als Reaktion auf Jinnahs All-India Muslim League war 1915 die Hindu-nationalistische ABHM – Akhil Bharatiya Hindu Mahasabha (die Gesamt-Indische Hindu-Groß-Versammlung), entstanden.

Nathuram Godse

Der ebenfalls mit der Dekolonisierung aufkommende Hindu-Nationalismus richtete sich allerdings nicht mehr nur gegen die Kolonialmacht. Er hatte darüber hinaus ein neues Feindbild: die muslimische Minderheit. Der Mörder Gandhis, Nathuram Godse gab an, er habe Gandhi deshalb getötet, weil dieser der muslimischen Minderheit die gleichen Rechte zubilligen wollte wie den Hindus.

Wenn man bedenkt, wie viele Trennlinien durch die Indische Gesellschaft gingen und immer noch gehen, dann erscheint es wie ein Wunder, dass es der indischen Unabhängigkeitsbewegung mit der Ahimsa-Haltung gelungen ist, all diese Gräben zu überwinden, um ein geeintes Indien zu realisieren.

Gandhi: “Religionen sind wie unterschiedliche Straßen, die auf denselben Punkt zulaufen […] warum spielt es eine Rolle, welche Straße wir nehmen, solange wir zum selben Ziel gelangen?14

Ahimsa als politische Haltung

Die Satyagraha-Haltung führt zwar aus der Wirkungslosigkeit des spirituellen Rückzugs ins Wirkungsfeld des Politischen, sie hält aber dennoch nicht nur an der Wahrheit, sondern auch am Prinzip des Mitgefühls und der Liebe fest.

Richtig verstanden und gewissenhaft praktiziert, würde Gewaltlosigkeit sicherer und unmittelbarer Antworten auf alle Probleme der Welt hervorbringen, als jedes messianische politische oder sektiererische religiöse Glaubensbekenntnis dies hoffen könnte. Aus dem Kleinen würde eine große Einheit entstehen.”15

Hier wird deutlich, warum Gandhis Bezug auf Ahimsa so geeignet war, Zugehörige unterschiedlichster Religionen für das Projekt eines geeinten, freien Indiens zu begeistern.

Der Weg der Gewaltlosigkeit

Anders als die Moral-Prinzipen der Baghavad Gita, sind die ethischen Richtlinien des Yoga-Sutras von Patanjali in einer Weise definiert, die auch dann verständlich ist und praktiziert werden kann, wenn der Praktizierende keine Ahnung von Hinduismus hat. Als empfohlene Praxis für eine Spiritualität ohne religiöse Zugehörigkeit können die Yama deshalb die tiefsten Gräben zwischen Kulturen und unterschiedlichen religiösen ‘Universalismen’ überbrücken – eine wahrhaft kosmopolitische Praxis.

Satyagraha – die gewaltlos durchgesetzte ‘Wirkkraft‘ der Wahrheit – war nicht nur ein Weg aus der kolonialen Unterdrückung. Sie sollte darüber hinaus eine spirituelle Transformation in jedem bewirken, der sich auf das Gelübde der Gewaltlosigkeit einlässt.

Der Weg der Gewaltlosigkeit birgt in sich selbst schon ein Potenzial zur positiven Veränderung. Er wird zum ‘kosmopolitischen Mitgefühl’ mit allen Lebewesen dieses Planeten und des gesamten Universums – ob das politische Ziel nun erreicht wird oder nicht. Gewaltlosigkeit ist, so Gandhi, in ihrer aktiven Form demnach nichts anderes als ‘reine Liebe’.

Liebe und Wahrhaftigkeit sind zwei Seiten ein und derselben Münze.”16

Autorin: Eva Pudill

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