Reklamation des öffentlichen Raums

Gewaltlose Revolutionen oder Protestbewegungen scheinen oft mit der Besetzung eines symbolträchtigen Platzes zu beginnen. Die Proteste gegen die türkische Regierung 2013 begannen am ‘Taksim Platz‘ in Istanbul, die gewaltlose Revolution gegen Husni Mubarak in Ägypten 2011 auf dem ‘Tahrir Platz‘ in Kairo, die orangene Revolution 2004 in der Ukraine am ‘Maidan Platz‘ in Kiew, die Studentenrevolte am ‘Tian’anmem Platz‘ 1998 in Peking.

Jede politische, soziale und kulturelle Situation erfordert eigene, kreative Strategien der gewaltlosen Revolte. Die Besetzung von öffentlichen Plätzen ist nur ein einzelner Schritt im Auftreten einer gewaltlosen Widerstandsbewegung. Doch entgegen allem Anschein ist es nicht der erste, sondern vielmehr der letzte Schritt. Nachdem die Gruppe, die den Widerstand initiiert hat, alle Vorbereitungen getroffen hat, um die Kampagne in die entscheidende Phase zu überführen.

Singuläre Strategien

Diese letzten Phase der Massenmobilisation sollte vielmehr erst den dramatischen Höhepunkt der Kampagne bilden. Er sollte die wahren Machtverhältnisse aufdecken, die sich im besten Fall gerade zugunsten der Protestbewegung zu wenden beginnen.

Vor diesem Showdown muss die Protestbewegung die eigentliche Widerstandsarbeit leisten. So hat sich die Widerstandsbewegung in Ägypten zwei Jahre lang auf die bekannt gewordenen Massenproteste am Tahrir-Platz vorbereitet: Mit der Verbreitung von Flugblättern, Veranstaltung von Straßentheatern und kleineren erfolgreichen Kampagnen.

Hierarchielose Massenbewegung

Angeregt durch den ‘Arabischen Frühling‘ benannte sich die Occupy! Wallstreet Protestbewegung, die 2011 als Reaktion auf die Finanzkrise entstanden war, nach eben jener Reklamation des öffentlichen Raums und machten diese zu ihrer Hauptstrategie. Sie errichteten im Zuccotti Park in New York City ein Zelt-Dorf und forderten eine stärkere Kontrolle der Banken und deren Finanztransaktionen, sowie soziale Umverteilung (‘We are the 99 Percent‘). Auch das Hacker-Kollektiv ‘Anonymous‘ schloss sich der Bewegung an.

Occupy!‘ wollte keine Hierarchien zulassen, und ihre Entscheidungen kollektiv in einer wöchentlichen Versammlung ‘General Assembly‘ treffen. Doch die ‘Multitude‘ konnten sich auf diese Weise auf keine konkreten Ziele und Strategien einigen. Die Occupy-Bewegung forderte unter anderem eine Finanztransaktionssteuer, höhere Steuern für Wohlhabende, sowie eine Offenlegung der Einflüsse von Konzernen auf die politischen Repräsentanten in Washington. Die Occupy! Bewegung hat zwar die Zusammenhänge und Auswirkungen der Finanzkrise ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt, doch ihre Forderungen konnten nicht durchgesetzt werden.

‘We are the 99 Percent’

Srdja Popovic, ein Gründungsmitglied der gewaltlosen Widerstandsbewegung ‘Otpor!‘, die 1996 in Serbien gegen Slobodan Milosevic aufbegehrt hatte, erklärte sich diese Wirkungslosigkeit von ‘Occupy!‘ einerseits durch ihren Mangel an einigenden Visionen und andererseits durch die unzureichende Planung und Strategie der Occupy-Bewegung.

Anstatt sich “Die 99 Prozent” zu nennen, was impliziert hätte, dass die Bewegung auf einer Gruppenidentität beruhte, benannten sich die amerikanischen Aktivisten stattdessen nach einer einzigen Taktik. Und obwohl gewaltfreie Aktivisten seit Jahren alle möglichen Dinge besetzen, […] ist die Besetzung nur eine einzelne Waffe im enormen Arsenal des friedlichen Protests.”1

Mit seinen früheren Mitstreitern der ‘Otpor!‘-Bewegung gibt Srdja Popovic und seine Organisation CANVAS (‘Center for Applied Non-violent Action and Strategies‘) seine Erfahrungen in Seminaren an andere Widerstandsbewegungen weiter.

Kairos – der richtige Augenblick

Um einen übermächtigen Gegner mit gewaltlosen Mitteln zu besiegen, müssen die Widerstandskämpfer die Ziele des Kampfes konkret und lebensnah formulieren. So, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sich mit der Bewegung identifizieren kann. Doch auch wenn der öffentliche Auftritt noch so gut vorbereitet ist, gilt es noch den richtigen Zeitpunkt für den öffentlichen Auftritt zu finden.

Das erste Prinzip der Planung ist die Zeit-Planung. […] Die Menschen sind launisch, leicht ablenkbar und weitgehend irrational. Treffen Sie sie, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten, geht die beste Planung verloren. Aber wenn Sie zum richtigen Zeitpunkt zur Tat schreiten, ist Ihnen der Erfolg garantiert.”2

Auch der Zeitpunkt, einzulenken und auf Kompromisse des Gegners einzugehen, sollte weise entschieden werden. Wenn nämlich die Widerstandsbewegung zu früh aufgibt oder die Opposition zerstritten ist, kann wie etwa in Ägypten 2011 ein Macht-Vakuum entstehen. Ein solches Vakuum gibt dann radikalen, gewaltbereiten Parteien die Chance, die Macht an sich zu reißen. Solche Niederlagen sind umso bedauerlicher, als sie im Nachhinein den Eindruck erwecken, gewaltloser Widerstand sei generell wirkungslos oder stürze ein Land gar in Chaos und Bürgerkrieg.

Versäumt eine Protestbewegung hingegen die Gelegenheit, Zugeständnisse für nebensächliche Kompromisse zu erwirken, dann verpasst der gewaltlose Widerstand unter Umständen das kurze Zeit-Fenster der Öffnung zum Dialog mit der Konfliktpartei. Bei der Studentenrevolte am Tian’anmen Platz ist, so Michael Nagler in: ‘The Nonviolent Handbook‘, genau das geschehen.

Graswurzeln

Die relative Wirkungslosigkeit von Occupy! zeigt nicht nur, dass gewaltloser Widerstand mehr erfordert, als symbolträchtige, öffentliche Plätze zu besetzen, zu demonstrieren und zu diskutieren. Es stellt sich die Frage, ob der Graswurzelrevolutions-Ansatz, so wie Occupy! ihn interpretierte, geeignet ist, gewaltlose Kampagnen umzusetzen.

Graswurzeln oder Rhizome gehen im Gegensatz zur tiefen Verwurzelung der Bäume, die für traditionelle, territoriale Bindungen und hierarchische Strukturen stehen, nicht tief in die Erde, sind aber netzartig miteinander verbunden. Sie sind mit dem Mycel-Netz der Pilze vergleichbar, das wie ein Kommunikationssystem des Waldes funktioniert.

Machtverteilung

Das ‘Rhizom‘ steht für bewegliche Strukturen mit viraler Ausbreitung, für Netzwerke mit sehr flachen Hierarchien. Die wirkungsvollsten Widerstandsbewegungen wurden jedoch oft von kleineren Gruppen oder sogar von Einzelnen initiiert. Denn die gewaltlose Haltung beginnt mit dem Individuum. Wird die Hierarchielosigkeit jedoch zum letzten Prinzip erklärt, ist es in letzter Konsequenz für einzelne Individuen nicht mehr möglich, etwas auszusprechen, das sowohl sie selbst, als auch andere betrifft.

Denn wenn ein einzelnes Individuum die Stimme erhebt und die Aufmerksamkeit einer immer größer werdenden Öffentlichkeit auf ein Problem lenkt, dann konzentriert er/sie damit im Grunde genommen Macht. Dies würde bedeuten, dass er/sie sich aus der Hierarchielosigkeit heraushebt. Wenn jeder aber nur für sich selbst sprechen darf, wird die Masse atomisiert. Es können schließlich keine Entscheidungen mehr zustande kommen, geschweige denn koordinierte Handlungen.

Strategisches Vorgehen

Die Planung und Durchführung von gewaltlosen Widerstandsaktionen erfordert einen gewissen Grad an Organisiertheit. Dass es prinzipiell möglich ist, mit den Mitteln des gewaltlosen Widerstandes auch gegen Auswüchse des Kapitalismus zu kämpfen, zeigen Non-Profit Organisationen wie ‘Greenpeace‘, ‘Attac‘ schon seit Jahrzehnten. Wie sich an diesen Organisationen zeigt, muss sich dazu auch niemand zum charismatischen Anführer aufschwingen.

Um zu Handeln braucht es Visionen. Einzelnen müssen strategische Entscheidungen treffen, Rollen verteilen, Initiativen ergreifen. Große Ziele müssen in kleinere Etappenziele aufgebrochen werden. Konkrete Ideen zur Umsetzung der Vision kommen meist von einzelnen, mutigen oder einfallsreichen Individuen. Durch ‘Ansteckung’ verbreiten sie sich zuerst auf eine kleinere Gruppe, dann auf immer größer und werden schließlich zur Massenbewegung. Digitale Kommunikationsmittel verstärken diesen viralen Effekt zweifellos um ein Vielfaches.

Macht der Symbole

Hat sich eine Strategie einmal durchgesetzt, kann sie auch von anderen Individuen und Gruppen übernommen und adaptiert werden. Der Einzelne muss, wie das Hacker-Kollektiv ‘Anonymous‘ zeigt, nicht einmal namentlich bekannt sein. Die Gruppe oder das Kollektiv sollte sich jedoch zumindest auf gemeinsame Ziele, eine gemeinsame Haltung und gemeinsame Werte und Vorgehensweisen einigen.

Zusammen handeln ist […] ein strategisches, das heißt erfolgsorientiertes Handeln. Dies macht die Organisation und Strategie notwendig. Allein vermittelst einer effektiven Organisation, einer guten Strategie kann ein zahlenmäßig kleinere Gruppe mächtiger sein als eine größere Gruppe.”3

Deshalb ist es so wichtig, Symbole zu wählen, die über ideologische Gräben und kulturelle Unterschiede hinweg, integrierend wirken. Gandhis Salzmarsch in Gujarat etwa nahm die Besteuerung eines Grundnahrungsmittels zum Anlass der taktischen Mobilisierung. Gewaltloser Widerstand ist immer zu einem guten Teil ‘Öffentlichkeitsarbeit’ und in diesem Sinne Machtkampf.

Die Rolle einzelner Individuen

Sowohl der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika als auch der Widerstand gegen die Segregation in den Südstaaten der USA wurde von Individuen angeführt. Einzelne ergriffen die Initiative und bewegten mit ihrer Rhetorik und ihren politischen Emotionen die Massen.

In Südafrika begann Nelson Mandela, der seit 1943 zunächst dem bewaffneten und gewaltbereiten Flügel des Afrikanischer National Kongress angehört hatte, nach einer 27 Jahre langen Gefängnis-strafe dem gewaltlosen Vorbild Mohandas Karamchand Gandhis konsequent zu folgen. Mit gewaltlosen Mitteln gelang ihm, was ihm mit Waffen nicht gelungen war: gegen die Apartheid zu kämpfen.

Vier Jahre später wurde er zum Präsidenten Südafrikas gewählt. Nelson Mandela setzte sich auch nach seiner Präsidentschaft für Gewaltfreiheit in Südafrika ein. Mit Gandhi’s Strategien der Gewaltlosigkeit ist es gelungen, die Apartheid zu besiegen.

Gandhis zwiespältige Haltung zum Rassismus

Doch ist Gandhi in seiner zwiespältige Haltung zur Rassentrennung oder zum Kastensystem wirklich ein gutes Vorbild für den Kampf gegen den Rassismus?

Als Mohandas Karamchand Gandhi in Südafrika mit der Apartheid konfrontiert wurde, stand er als Inder zwischen den Fronten. Da er weder als Weißer noch als Schwarzer galt, wurde er, wie die indische Minderheit in Südafrika generell, oft von beiden Seiten drangsaliert. Dennoch war seine Forderung eines eigenen Status von Indern in der Trennung der Rassen nicht wirklich ein Statement gegen den Rassismus.

Auch Gandhis Unwilligkeit, das Kastensystem – von Arundhati Roy als ‘Apartheid Indiens’ bezeichnet – anzutasten, spricht bezüglich der Rassismus-Problematik nicht für Gandhi.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang – während seines ganzen Erwachsenenlebens – blieben [Gandhis] Äußerungen über die inhärenten Qualitäten von Schwarzafrikanern, Unberührbaren und der Arbeiterklasse ständig beleidigend”. “Seine Weigerung, den Menschen der Arbeiterklasse und den Unberührbaren zu erlauben, ihre eigenen politischen Organisationen zu gründen und ihre eigenen Vertreter zu wählen, blieb ebenfalls konsequent.4

Backward Tribes

Auch, dass die Selbstbezeichnung der indigenen Bevölkerung als ‘Adivasi‘ von der indischen Verfassung verworfen wurde zeigt, dass die Kongress-Bewegung im Grunde doch aus überzeugten Hindus bestand. Da der Begriff ‘Adivasi‘ den Eindruck vermittelt, diese wären schon länger ansässig als die Kasten-Hindus, wurden sie stattdessen als ‘backward tribes‘ oder ‘scheduled tribes‘ bezeichnet.

Gandhi war ein Bewunderer des Kastensystems. Er glaubte, dass man die Kastenlosen in das Kastensystem integrieren könnte. Das Kastensystem sei so weit zu reformieren, dass zwischen den Kasten keine Hierarchie mehr bestünde. Eine Naivität, die man Gandhi nicht so leicht abnehmen kann.

Gewaltlose Methoden

Die Methoden des zivilen Ungehorsams konnten hingegen von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung sehr wohl erfolgreich im Kampf für die zivilen Rechte der Afroamerikaner in den Südstaaten der USA adaptiert werden.

Absurderweise lieferte gerade die Vorgehensweise Gandhis während der Zeit der Apartheid in Südafrika ein Vorbild für den von Martin Luther King angeführten gewaltlosen Kampf gegen die Segregation mittels zivilen Ungehorsams.

Martin Luther King

Während seines Theologie-Studiums hatte Martin Luther King Texte von Henry David Thoreau gelesen. Thoreau wollte einen Staat, der die Sklaverei zuließ, nicht mit seinen Steuern unterstützen. So stieß King das erste Mal auf das Prinzip des bürgerlichen Ungehorsams. Daraufhin hörte er mehrere Vorträge über M.K. Gandhi, der zu seinem großen Vorbild wurde.

Der Bürgerrechtsbewegung, für die sich Martin Luther King engagierte, ging es darum, die Segregation (Rassentrennung) zu bekämpfen. Diese hatte vor allem in den Südstaaten ähnliche Formen angenommen wie die Apartheid in Südafrika. Die sogenannten ‘Black Codes‘ waren in den Südstaaten eingeführt worden, um gewisse Punkte des dreizehnten Verfassungszusatzes zu umgehen. Durch diesen Verfassungszusatz war nach dem Sezessionskrieg 1852 die Sklaverei in den gesamten Vereinigten Staaten abgeschafft worden.

Diese Black Codes verfolgten drei Hauptziele: erstens die Rassentrennung (Segregation) in allen Bereichen des öffentlichen Lebensraumes – zum Beispiel in Schulen, Restaurants, Theatern, Krankenhäusern und öffentlichen Verkehrsmitteln; zweitens die Kontrolle über die schwarze Arbeitskraft: so war es Afroamerikanern in vielen Südstaaten verboten, Handel zu treiben, ein Handwerk auszuüben, eigenes Land oder Häuser zu besitzen. […] drittens zielten die Black Codes auf die politische Entmachtung der Afroamerikaner.”5

Bürgerrechtsbewegung

Der unermüdliche und lebensgefährliche Kampf der Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassentrennung, und für das Recht zu wählen und im Alltag nicht ständig diskriminiert zu werden, war ein sehr wichtiger und notwendiger Schritt im Kampf gegen den Rassismus und dessen soziale und ökonomische Auswirkungen.

Dennoch wurde die Bürgerrechtsbewegung immer wieder von radikalen Stimmen – wie von Malcolm X und der ‘Nation of Islam‘, einer ‘nationalistischen’, im Grunde genommen aber rassistischen Vereinigung – kritisiert. Malcolm X verglich in seinem demagogischen Stil die gewaltlos agierenden, und auf Integration ausgerichteten Vertreter der Bürgerrechtsbewegung mit ‘Haussklaven‘, denen es im Gegensatz zu den ‘Feldsklaven‘ nicht um die Befreiung vom Joch der weißen Unterdrücker, sondern nur um Anpassung, Gleichstellung und Integration ging.

Systemimmanenter Rassismus

Auch Martin Luther King erkannte einige Jahre vor seiner Ermordung, dass es nicht genug sei, nur für die zivilen Rechte von Afroamerikanern zu kämpfen. Nachdem er das Elend in den Ghettos der Nordstaaten gesehen hatte, musste er anerkennen, dass Rassismus in den Vereinigten Staaten zu einem systemischen, sozialen Phänomen geworden war.

Den selben Schluss hatte auch Malcolm X gezogen, kurz bevor er ermordet wurde. Eine Pilgerreise nach Mekka hatte Malcolm X erkennen lassen, dass sich der Islam nicht mit dem schwarzen Rassismus der ‘Nation of Islam‘ vertrug. In Mekka hatte er erfahren, wie Muslime unterschiedlicher Hautfarbe friedlich miteinander die Kaaba umkreisen. Er wollte sogar nach seinem Austritt aus der ‘Nation of Islam‘, mit seinem Gegenspieler Martin Luther King zusammenarbeiten. Doch dazu kam es nicht mehr.

Ghetto

Der Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung in Ghettos war mit gewaltlosen Mitteln viel schwerer beizukommen als dem radikalen Rassismus der ehemaligen Sklavenhalter und dem Ku-Klux-Klan in den Südstaaten. Denn die diskriminierende Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung in den Ghettos war in den Nordstaaten, die ehemals gegen die Südstaaten unter dem Vorwand der Abschaffung der Sklaverei in den Sezessionskrieg gezogen waren, weniger greifbar, abstrakter – kurz: systemimmanent.

Der Zweck eines Ghettos liegt darin, diejenigen, die keine Macht haben, einzuschließen und ihre Machtlosigkeit fortzusetzen […] [Es] ist im Prinzip nichts anderes als eine interne Kolonie, deren Bewohner politisch beherrscht, wirtschaftlich ausgebeutet, segregiert, und bei jeder Gelegenheit gedemütigt werden.”6

Vielleicht waren die Methoden des gewaltlosen Widerstandes gerade deshalb so erfolgreich, weil sie jeweils an ganz konkreten, alltäglichen Problemen ansetzten. Gegen ein abstraktes Phänomen wie ‘soziale Ungerechtigkeit’ kann nicht gekämpft werden. Es braucht vielmehr einen konkreten Anlass, um mit gewaltlosen Mitteln für ein greifbares Ziel zu kämpfen.

Busboykott

Die erste Aktion, die Martin Luther mit der NAACP / National Association for the Advancement of Colored People, ausführte, war ein Bus-Boykott. Die NAACP, die älteste und größte afroamerikanische Bürgerrechtsorganisation war 1909 von schwarzen und weißen Integrationisten gegründet worden. Martin Luther King war in Montgomery, Alabama als Prediger in seiner Gemeinde sehr beliebt. Deshalb wurde er gebeten, in seiner Predigt auf den Bus-Boykott aufmerksam zu machen. Seit der Sklaven-Zeit waren die schwarzen Kirchen heimliche Orte des Widerstandes.

Die Kirche als Ort des Widerstandes

Die Kanzel war jahrhundertelang die einzige Möglichkeit für die Afroamerikaner, öffentlich aufzutreten. Deshalb ist der Pfarrer in schwarzen Gemeinden in der Regel nicht nur geistliches Oberhaupt, sondern auch politischer Anführer, dessen Einfluss oft weit über jene seiner weißen Amtskollegen hinausgeht.”7

Martin Luther King stellte seine Kirche für ein Treffen aller interessierten Pfarrer zur Verfügung. Alle beschlossen, in ihren Sonntagspredigten auf den Bus-Boykott, der am folgenden Tag stattfinden sollte, aufmerksam zu machen. Anlass für diesen Boykott war die Verhaftung von Rosa Parks, die ihren Platz im Bus nicht einer Weißen überlassen hatte. Die NAACP beschloss mit Parks Zustimmung, ihren Fall zu einem Musterprozess auszuweiten.

Montgomery

Um Parks Fall öffentlich bekannt zu machen, sollten alle öffentlichen Busse in Montgomery von Afroamerikanern boykottiert werden. Obwohl dieser Boykott für die Schwarzen in Montgomery ein großes Opfer bedeutete, waren alle öffentlichen Busse am nächsten Tag leer. Der Boykott wurde zu einem großer Erfolg, der alle Erwartungen der Organisatoren übertraf. Deshalb luden sie noch am selben Abend zu einer Versammlung in Martin Luther Kings Kirche. 7500 Menschen erschienen und King hielt eine bewegende Rede.

So wurde Martin Luther King zum offiziellen Anführer des schwarzen Widerstandes in Montgomery. Der Bus-Boykott wurde fortgesetzt – für Tage, Wochen, Monate, schließlich für ein ganzes Jahr. Durch seine exponierte Position, war King zur Zielscheibe des weißen, rassistischen Hasses geworden.

Gewaltlose Reaktion auf ein Bombenattentat

Als in seinem Haus eine Bombe explodierte und seine Frau und Kinder nur mit großem Glück unversehrt blieben, rief er dennoch zur Gewaltlosigkeit auf. Die Zuhörer seines bewegenden Aufrufs konnten seine Reaktion auf das Bombenattentat kaum fassen.

Während dessen ging die Berufung von Rosa Parks durch alle Instanzen des amerikanischen Gerichtssystems. Am 13. November 1956 entschied der Oberste Gerichtshof schließlich, dass die Rassentrennung in Bussen verfassungswidrig sei.”8

Sit-ins

Im Jänner 1957 wurde King zum Präsidenten der neu gegründeten SCLC. Die ‘Southern Christian Leadership Conference‘ war ein Dachverband aller kirchlicher Bürgerrechtsgruppen im Süden, mit Sitz in Atlanta, Georgia. In Folge kämpfte die Bürgerrechtsbewegung erfolgreich für die Integration von Schulen, sowie mit gewaltlosen Sit-ins für die Desegration von Cafeterien, Restaurants und Geschäften. Mit ‘Freedom-Rides‘ quer durch die Südstaaten kämpfte sie für die Desegration von überregionalen Reisebussen, und in Birmingham, Alabama gegen einen rassistischen Polizeichef.

Aufgerüttelt durch die Ereignisse in Birmingham, wo es auch zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen war, kündigte Präsident John F. Kennedy ein neues Bürgerrechtsgesetz an, das die Rassendiskriminierung im gesamten Gebiet der Vereinigten Staaten abschaffen sollte: den Civil Rights Act. Um dieses Vorhaben zu unterstützen, veranstaltete die Bürgerrechtsbewegungen den weltweit beachteten ‘March on Washington‘.

Opfer von Großprojekten

Die Indigene Bevölkerung (sei es in Indien, Mexiko oder Brasilien, Asien oder Afrika) wird regelmäßig Opfer von Großprojekten wie Wasserkraftwerken, der Ansiedlung von Schwerindustrie, dem Straßenbau, der Rodung von großen Landflächen für Monokulturen oder für touristische Naturparks. So sind etwa weltweit in den letzten fünfzig Jahren 80 Millionen Menschen durch den Bau von Staudämmen von ihrem Land vertrieben worden.

Die Indigene Bevölkerung verliert durch solche Großprojekte nicht nur ihr Land. Auch ihre traditionelle Lebensweise wird zerstört. So leben in Indien ca. 10 Millionen ‘Adivasi‘ (wörtlich: ‘Erste Bewohner’) in städtischen Slums. Wie die Dalits werden sie von der indischen Gesellschaft, trotz Verfassungsrechtlichen Schutzstatus, geächtet und benachteiligt.

Im Kampf der indigenen Bevölkerung um ihren Lebensraum und ihre Lebensweise geht es immer auch um den Kampf gegen Umweltzerstörung. Denn ihre Tradition ist oft von einer starken Verbindung zur Natur geprägt.

Sarovar Staudamm

Die Adivasi leben meist in selbstversorgenden Dörfern, auf gemeinschaftlich bewirtschaftetem Land. Für den Bau des Sardar-Sarovar-Staudammes, am Narmada Fluss, der schon seit 1961 in Bau ist, sollten wieder 110.000 Adivasi zwangsumgesiedelt werden. Hier regte sich der Widerstand der Adivasi. Der Kampf der Dorfbewohner gegen das Großprojekt dauerte mehr als ein Jahrzehnt an.

Aktivisten und Dorfbewohner schlossen sich in der ‘Narmada Bachao Andolan‘ / ‘Bewegung zum Schutz der Narmada‘ zusammen. Schließlich wurden die Stimmen der Adivasi von der Öffentlichkeit letztendlich doch einmal gehört. Die internationalen Investoren der Weltbank zogen schließlich 1990 ihre Beteiligung aufgrund des insistierenden öffentlichen Drucks zurück.

Das Höchstgericht (Indian Supreme Court) stoppte den Bau für sechs Jahre. Doch im Jahr 2000 entschied der oberste Gerichtshof nicht nur den Weiterbau. Die Überlaufkante der Staumauer wurde sogar erhöht, sodass nun 200.000 Menschen umgesiedelt werden müssen. Die Adivasi werden in ihrem Kampf gegen Großprojekte des Staates und die Machenschaften internationaler Konzerne von Nichtregierungs-Organisationen unterstützt. In Andhra Pradesh und Orissa werden die Adivasi beispielsweise von der Menschenrechtsorganisation ‘Samata‘ unterstützt.

Der Flughafen in Nantes, Frankreich

Dass gewaltloser Widerstand kapitalistische Großprojekte wirklich verhindern kann, zeigt ganz aktuell der Erfolg des jahrzehntelangen Widerstandes gegen den Bau eines Großflughafens im Westen Frankreichs, nördlich von Nantes. Seit fünfzig Jahren existieren Pläne, diesen Flughafen in einem ländlichen Gebiet mit Viehzucht, Landwirtschaft und Wäldern zu realisieren, obwohl in Nantes bereits ein Flughafen existiert.

Der Widerstand gegen dieses Großprojekt dauert nun mit Unterbrechungen ebenfalls schon fünfzig Jahre an. 1972 begann er mit dem ADECA, dem Verband zum Schutz der vom Flughafen-Projekt betroffenen Bauern. Im Jahr 2000 wurde das schlummernde Projekt wieder aufgegriffen. Wieder entstand eine Bürgervereinigung zum Schutz der Menschen, die vom Flughafenprojekt betroffen sind.

Zone für alle

Abgesehen von der Zerstörung von Wald und landwirtschaftlichen Flächen hätte der Bau des Großflughafens durch die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen der Stadt enorm viel gekostet und nur dem Konzern Profite gebracht. Die Zone – in ‘zone à défendre (zu verteidigendes Gebiet) umbenannt – wurde daher 2012 von der Widerstandsbewegung ‘für die gemeinsame Sache’ dauerhaft besetzt.

Probebohrungen wurden verhindert, gemeinsame Essen fanden statt, Klimacamps, Aktionen gegen VINCI-Konzern und Großdemonstrationen wurden organisiert. Die Vertreibung der Protestierenden, Prozesse und Gefängnis- bzw. Geldstrafen gegen einzelne Teilnehmer stärkten nur die Solidarität unter den Gruppen, die an dem Protest teilnahmen. Der polizeilichen Operation ‘Caesar‘ gegen die Besetzer, wurde mit einer erneuten Besetzung – Operation ‘Asterix‘ – begegnet. In der Zone wurde gelebt, es wurde ein großer Versammlungsraum für kulturelle Aktivitäten und Debatten und eine Bibliothek errichtet.

Erfolg nach fünfzig Jahren

Die Ausdauer der Flughafengegner sowie die Gemeinschaft, die durch den zwei Generationen lang anhaltenden gewaltlosen Kampf entstanden war, führte schließlich 2017 zum Erfolg. Die neue Regierung beauftrage eine Untersuchung und beschloss das Ende des Projekts.

Doch die Besetzer wollen ihr neues Leben in der Zone nicht aufgeben. Sie wollen, dass diese ein Ort ‘für alle’ bleibt. Die Freude an der öffentlichen Handlung entsteht genau dadurch, dass uns der gewaltlose Widerstand aus der Vereinzelung des Privaten herausreißt, in der uns das kapitalistische System gefangen hält, und uns die Gemeinschaft wieder spüren lässt.

Der Kapitalismus baut auf egoistische Einzelinteressen von Individuen oder Gruppen. Eine zivile Gegenmacht kann daher nur durch einen Zusammenschluss dieser Individuen oder Interessensgruppen entstehen. In Nantes ist dies scheinbar besonders gut gelungen.

Mit Humor gegen Diktatoren

Je repressiver das System, mit dem der gewaltlose Widerstand konfrontiert wird, desto subtiler und einfallsreicher muss der Widerstand sein. Wenn fast alle kritischen Äußerungen vom Regime verboten und mit Gefängnis und Folter geahndet werden, müssen Widerstandsbewegungen, die wenigen legalen Lücken ausfindig machen, die vom System vergessen wurden. Finden Widerstandsbewegungen die Achillesferse des repressiven Systems, können sie es mit der ‘Waffe’ des Humors treffsicher der Lächerlichkeit preisgeben. Diktatoren beginnen, wenn sie zu mächtig werden, sich selbst zu ernst zu nehmen. Deshalb begehen sie, so Srda Popovic, oft demaskierende Fehler, wenn sie mit Humor oder ‘laughtivism‘ konfrontiert werden.

Der “Gefährlichste Gegner [von Autorität] ist nicht Feindschaft, sondern Verachtung, und was sie am sichersten unterminiert, ist das Lachen.”9

In manchen Fällen reagieren Diktatoren auf subversive Kritik so extrem, dass sie plötzlich die gesamte Bevölkerung und die internationale Öffentlichkeit gegen sich haben. Dann hat die Widerstandsbewegung mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit den Sieg im Machtkampf gegen die Gewaltherrschaft errungen.

Performance-Kunst

Mit humorvollen Aktionen kann auch dem Zustand der Angst und des Schreckens begegnet werden, der die gewaltsam unterdrückte Bevölkerung in ihrer kollektiven Traumatisierung erstarren lässt. Manch gewaltlose Aktion wirkt dabei in ihrem kreativen, humorvollen Ansatz wie Performance-Kunst.

So bedruckten syrische Aktivisten hunderte von Tischtennisbällen mit Ein-Wort-Slogans wie ‘genug‘ oder ‘Freiheit‘ und warfen sie aus großen Müllsäcken in die engen und steilen Gassen von Damaskus. Die umher hüpfenden Bälle legten den Verkehr lahm. Ohne, dass ein einzelner oder eine Gruppe dafür verantwortlich gemacht werden konnte, wurde diese Aktion immer und immer wiederholt. Die Polizei wurde in ihrem Versuch, die Bälle einzufangen und zu eliminieren Unterstützt werden, der Lächerlichkeit preisgegeben.

Andere syrische Performance-Aktivisten färbten in der Nacht das Wasser der Springbrunnen auf den Hauptplätzen in Damaskus mit roter Lebensmittelfarbe, sodass der Eindruck entstand, dass die Brunnen Blut spuckten. Es dauerte mindestens eine Woche, bis die rote Farbe langsam wieder verblasste. Die Polizei konnte nichts anders tun, als zuzuschauen und abzuwarten, bis der ‘Spuk‘ wieder vorbei war.

Sextremistischer Protest

Auch die provokativen, ‘sextremistischen‘ Proteste der Ukrainischen Frauenorganisation ‘Femen‘, und die Auftritte der feministischen Punkrock-Band ‘Pussy-Riot‘ in Moskau erinnerten an Performance-Kunst. Beide kämpfen mit Mitteln der Provokation, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Ausbeutung durch Zwangsprostitution und andere Arten von Sexismus zu lenken.

Pussy-Riot‘ schockierte durch ihre Regierungs- und Kirchen-kritischen Auftritte regelmäßig das russische Establishment. Sie traten immer illegal an öffentlichen Orten auf, denn nur so könne die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt werden. Da sie ihre weiblichen Gesichter nicht zu Markenzeichen machen wollten, trug das Kollektiv von zehn Frauen Masken. Die Gruppe verstand ihre performativen Auftritte als zivil-gesellschaftliche Aktivität inmitten eines repressiven politischen Klimas.

Ihre antiautoritäre Haltung äußerte sich auch in der Hierarchielosigkeit ihrer Gruppe. In Russland, wo Homosexualität verfolgt wird, bekannten sich zwei ihrer Mitglieder offen zu ihrer homosexuellen Ausrichtung. 2012 stürmte ‘Pussy-Riot‘ während eines russisch-orthodoxen Gottesdienst die ‘Christ-Erlöser-Kirche‘ im Zentrum von Moskau und exerzierten ihr ‘Punk-Gebet’ gegen die Allianz von Kirche und Staat.

Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin“, “Der Patriarch glaubt an Putin, obwohl er an Gott glauben sollte“. Statt einer Politisierung der Religion wie sie in Indien von den Hindu-Nationalisten praktiziert wird, soll die Allianz zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und der Regierung scheinbar eine ‘Sakralisierung‘ der Politik Putins bewirken. Genau diese hat ‘Pussy-Riot‘ mit ihrem häretischen ‘Punk-Gebet’ bloßgestellt.

Die Festnahme von drei Mitgliedern der Band löste eine Protestwelle aus, und verstärkte die Kritik an der politischen Verflechtung der russisch-orthodoxen Kirche mit der Regierung.

Busenmacht

Im Jahr 2008 begann die in der Ukraine gegründete Gruppe ‘Femen‘ mit Slogans bemalten, nackten Oberkörpern und der Parole ‘Die Ukraine ist kein Bordell‘ gegen Zwangsprostitution, Leihmutterschaft sowie andere Formen von Sexismus zu demonstrieren. Ihr Zeichen ist die ‘Busenmacht’, ihre Organisation nicht ganz so Hierarchielos wie die der Pussy-Riots. Die Gründerin der Gruppe Hanna Huzol leitete zu Beginn Femen mit Wiktor Swajatsky. Seit 2011 führt Femen auch in Italien, Frankreich und Deutschland Aktionen durch. Aus Protest gegen den Gerichtsprozess der drei Pussy-Riot Mitglieder in Russland, zerstörte ein Femen-Mitglied ein vier Meter hohes Holzkreuz in Kiew. Die Auftritte von ‘Femen‘ lösten unter Feministinnen Kontroversen aus.

Autorin: Eva Pudill

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