Nur eine Frage des Grades?

Macht und Gewalt werden oft mehr oder weniger als Synonyme verwendet, oder die Gewalt bloß als eine stärkere Form von Macht definiert.

So schreibt etwa Elias Canetti in ‘Masse und Macht‘: “Mit Gewalt verbindet man die Vorstellung von etwas, das nah und gegenwärtig ist. Sie ist zwingender und unmittelbarer als die Macht. […] Macht auf tieferen und mehr animalischen Stufen ist besser als Gewalt zu bezeichnen. […] Wenn die Gewalt sich mehr Zeit lässt wird sie zur Macht.1

Nach dieser Definition ist der Unterschied zwischen Macht und Gewalt nur ein gradueller. Macht wird als beschränkte oder institutionalisierte ‘gemilderte’ Gewalt definiert. Gewalt wiederum als intensivere, unmittelbarere Form der Macht. Aber trifft dies wirklich zu? Ist Gewalt, wie Bertrand Russell, Elias Canetti, Jean Paul Sartre und viele andere behaupten, wirklich nur eine Form von Macht?

Macht kann nicht erzwungen werden

Gewaltherrschaft basiert auf Befehl und Zwang zum Gehorsam. Erhält ein Diktator aber durch den ängstlichen Gehorsam des Volkes wirklich mehr Macht? Durch Handlungen unter Zwang bildet sich keine Macht:

Aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.”2

Im Falle der Diktatur wird deutlich, dass Macht und Gewalt sogar Gegensätze sein können. Die Tyrannis ist, wie Montesquieu bemerkte, die zwar gewalttätigste aber gleichzeitig ohnmächtigste Staatsform. Denn die Zahl derer, die sie unterstützt, ist im Vergleich zu anderen Staatsformen, die geringste.

Vermittlung

Der Unterschied zwischen Gewaltherrschaft und Macht als Freiheit besteht, so die These Byung-Chul Han in ‘Was ist Macht‘, im Vermittlungsgrad.

Bei höchster Vermittlung fallen Macht und Freiheit zusammen. In diesem Fall wäre die Macht am stabilsten und anerkannt von nahezu allen. Gewalt gilt hingegen deshalb als ‘nackt‘, weil sie jeder Vermittlung entbehrt, sie will den Anderen / die Andersheit vollständig auslöschen.

Macht der Mehrheit

In einer Demokratie ist es die Unterstützung des Volkes, die den Gesetzen und Institutionen ihre Macht verleiht:

Wenn die athenische Polis von ihrer Verfassung als ‘Isomie’ sprach, einer Organisation der Gleichen im Rahmen des Gesetzes, oder wenn die Römer ihre ‘Res publica‘, das öffentliche Ding, eine ‘Civitas‘, eine Bürgervereinigung nannten, so schwebte ihnen ein anderer Macht- und Gesetzesbegriff vor, dessen Wesen nicht auf dem Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden beruht, und der Macht und Herrschaft [und Gewalt] nicht gleichsetzt.”3

Doch auch in der Macht der zahlenmäßig Überlegenen liegt eine Gefahr: “Ungeteilte und unkontrollierte [nicht durch Gesetze kontrollierte] Macht kann eine Meinungsuniformität erzeugen, die kaum weniger ‘zwingend’ ist als gewalttätige Unterdrückungen. […] So kann eine Mehrheitsherrschaft, die nur auf Macht basiert, […] Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken.”4

So wurde in Myanmar die Diktatur zwar auf gewaltlosem Weg besiegt. Buddhistische Mönche, die in Myanmar im Volk sehr viel Ansehen und Respekt genießen, spielten dabei eine wichtige Rolle. Doch gegenwärtig wird die muslimische Minderheit der ‘Rohingya‘ gewaltsam vertrieben, nachdem sie von ‘radikalen Buddhisten’ zum Feind erklärt wurde.

Mysterien der Macht

Hier tritt Tocquevilles Einfluss auf Hannah Arendts Politikverständnis hervor. Alexis de Tocqueville hat schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in seinem Werk ‘Über die Demokratie in Amerika‘ vor dieser Gefahr einer Diktatur der Mehrheit gewarnt. Er sah in zivilen Kooperationen wie Vereinen oder Interessensvertretungen ein Mittel, den ‘atomisierenden‘, individualisierenden Tendenzen der Demokratie entgegenzuwirken.

Arendt: “Macht selbst kann ihrem wahren Sinne nach niemals von einem Menschen allein besessen werden, Macht tritt gleichsam auf mysteriöse Weise immer dann in Erscheinung, wenn Menschen gemeinsam handeln und sie verschwindet in nicht weniger mysteriöser Weise, sobald ein Mensch ganz bei sich selbst ist.”5

Wüste der Verlassenheit

Der Raum, in dem sich öffentliche Macht entfalten kann, muss auch in einer offenen Gesellschaft durch politisches Handeln immer wieder neu erkämpft werden. Es ist dieser öffentliche Raum, ‘dessen die Freiheit zu ihrer Verwirklichung bedarf‘. Er wird ‘in eine Wüste verwandelt‘, wenn seine rechtlich festgelegten Grenzen (wie im Totalitarismus) durch tyrannische Willkür zerstört werden. In dieser ‘Wüste der Verlassenheit‘ ist dann das einzig bewegende (oder erstarrende) Prinzip die Furcht.

Totalitäre Bewegungen […] sind überall da möglich, wo Massen existieren […] Massen werden nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten und ihnen fehlt jedes spezifische Klassenbewusstsein, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt. Der Ausdruck ‘Masse‘ ist überall da anzutreffen, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich entweder weil sie zu zahlreich sind, oder weil sie gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen; die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessensvertretungen, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen. Der Massenmensch ist ein isoliertes, atomisiertes Individuum, das nicht mehr in einer auf Interessen basierenden Organisation integriert werden kann.”6

Welt-los: der atomisierte Massenmensch

Der isolierte, atomisierte Massenmensch kann keine Bündnisse aufgrund seiner Interessen eingehen. Denn er/sie kann diese Interessen aufgrund des Fehlens eines Standortes nicht einmal mehr klar erkennen.

Arendt begreift die Individuen der Massengesellschaft als ‘entwurzelte’, und ‘weltlos‘ gewordene Menschen, die über keinen bestimmten Ort mehr verfügen, von dem aus sie ihre je besondere Perspektive verteidigen können. So entsteht eine kommunikative Ohnmacht, die subjektiv mit dem Gefühl des Überflüssig-seins korrespondiert7

Zweite Geburt durch politisches Handeln

Wir werden zwar, so Arendt, in eine Welt hineingeboren, die existiert, bevor wir geboren wurden. Doch sobald wir uns unserer Existenz bewusst werden, schalten wir uns sprechend und handelnd in das Geschehen ein. Diese Einmischung betrachtet Arendt als eine Art ‘zweite Geburt‘. Diese bestätigt die ‘nackte Tatsache‘ des Geboren-Werdens (griechisch: ‘Zoé‘) und übernimmt Verantwortung dafür.

Dies ist es, was Arendt ‘Natalität‘ nennt.

Die Erzählung [Bio-Graphie] [wiederum] ist ein Gedächtnis des Handelns, das selbst eine beständig erneuerte Geburt und Fremdheit ist, die ihr ontologisches Potenzial aus der Tatsache unserer Geburt bezieht. […] Durch Erzählung […] verwirklicht sich das eigentlich politische Denken. Durch das nacherzählte Handeln, das Erzählung ausmacht, bezieht sich der Mensch auf das Leben oder gehört zum Leben, insofern menschliches Leben unweigerlich politisches Leben ist. Die Erzählung ist die erste Dimension, in der ein Mensch lebt, durch Bios und nicht durch Zoé, ein politisches Leben und/oder ein anderen Menschen überliefertes Leben.8

Arendt versteht deshalb politische Verantwortung nicht nur im Sinne der repräsentativen Demokratie als die Verantwortung der Politiker und Staatsmänner oder Frauen:

Es ist die kollektive Verantwortung, die Verantwortung, die wir alle gemeinsam haben für die Dinge, die in unserem Namen von Gruppierungen und politischen Körperschaften, denen wir angehören, getan werden.”9

Öffentlicher Freiraum

Arendts Politikverständnis unterscheidet sich vom traditionellen Politikverständnis, das Macht mit Herrschaft gleichsetzt. Denn sie verschiebt den Akzent auf das politische Handeln in einem öffentlichen Freiraum, der das Wirken der Macht erst ermöglicht.

Macht vermittelt sich im ‘Diskurs‘ beziehungsweise in einem Macht-Dispositiv das dem Diskurs übergeordnet ist:

Im Gegensatz zur nackten Gewalt kann sich die Macht mit Sinn verbinden. Vermittels ihres semantischen Potenzials schreibt sie sich einem Verstehens-Potential ein. […] Etwas wird erst dann bedeutsam oder sinnvoll, wenn es über sich hinaus in ein Beziehungsnetz, in ein Sinnkontinuum oder einen Sinnhorizont gestellt wird. […] Die Macht wird sich also in einen Sinnhorizont einschreiben müssen […], um den Verstehens- und Handlungsprozess effektiv steuern zu können.”10

Erst in Hinblick auf die Macht – ihre Dispositive und Diskurse – werden Dinge, Räume oder Stellungen bedeutsam. In diesem Sinne ist jeder Sinn ‘Wille zur Macht’, der sich im Diskurs äußert.

Für-wahr-halten

Deshalb betont Friedrich Nietzsche die Perspektivität jeder Wahrheit: Der ‘Fluchtpunkt’ der Perspektive ist jeweils der Wille zur Macht. Dem Massenmenschen kommt in seiner Ortlosigkeit die spezifische Perspektive abhanden, aus der er/sie die Geschehnisse bewerten könnte.

Für Nietzsche gibt es keine letzte Wahrheit, jede ‘Erkenntnis’ ist ein Für-wahr-Halten aus einer bestimmten Perspektive des ‘Eckstehers‘ Mensch. Für Hannah Arendt ist wiederum entscheidend, in diesem Zusammenhang zwischen Wahrheit und Sinn, bzw. zwischen Denken und Erkennen zu unterscheiden. Sie bezieht sich dabei auf Kants Begriffe Vernunft und Verstand:

Während der Verstand auf der Suche nach wahrer Erkenntnis ist, führt das Denken als Suche der Vernunft zu Sinn. Unsere Meinungen beruhen häufig auf unseren Vorstellungen darüber, was uns als signifikant und bedeutsam erscheint, nicht nur darauf, was wahr ist.

Meinung

Daher stehen sich auch Tatsachen und Meinungen, obgleich sie streng voneinander unterschieden werden müssen, keineswegs antagonistisch gegenüber; sie gehören immer noch zum gleichen Bereich. Tatsachen sind Gegenstand von Meinungen, und Meinungen können sehr verschiedenen Interessen und Leidenschaften entstammen, weit voneinander abweichen und doch alle noch legitim sein, solange sie die Integrität der Tatbestände, auf die sie sich beziehen, respektieren.11

Die öffentliche Meinung ist eine vermittelte Macht und wird von bestimmten Diskursen geleitet. “Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potenziellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält.12

Gemeinsame Sache

Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit plötzlich auf einen brutal niedergeschlagenen Protest gerichtet wird, kann die Meinung zu einer Macht werden, die oft schon den gewaltsamsten Potentaten zum Abdanken gezwungen hat.

Die öffentliche Meinung der Zivilgesellschaft muss keine Gewalt ausüben, um zu wirken. Sie ermächtigt durch ihre Zustimmung und entmachtet durch ihre Ablehnung. Die Bündelung und Ausrichtung der öffentlichen Aufmerksamkeit ist daher das mächtigste Mittel gewaltloser Revolten. Doch die öffentliche Meinung ist eine zwiespältige Macht.

Der allgemeinen Meinung zufolge weist sich die ‘öffentliche Meinung’ durch die Tugend oder das Laster der Unberechenbarkeit aus […] Sie ist buchstäblich vergänglich und hat keinen Status, weil sie nicht gezwungen ist, stabil zu sein […] sie muss nicht einmal beständig unbeständig sein. […] Die öffentliche Meinung […] ist von Rechts wegen weder mit einem Allgemeinwillen identisch noch mit der Nation, der Ideologie oder der Summe privater Meinungen […] Doch dieser Durchschnitt […] wahrt zuweilen die Kraft, gegen die Mittel zu opponieren, die dazu taugen, ‘die öffentliche Meinung zu lenken’, er leistet Widerstand gegen die ‘Kunst, die öffentliche Meinung zu verändern’, die – wie Rousseau in seinem Brief an d’Alembert auch schreibt – ‘weder der Vernunft noch der Tugend oder dem Gesetz’ geläufig ist.13

Schlechte Meinung über die Meinung

Die ‘Meinung’ hatte von der klassischen, griechischen Philosophie bis zu Immanuel Kant stets einen schlechten Ruf. Ihr fehle, so diese Denktradition, die hinreichende Begründung im rationalen Denken. Die Doxa wurde oft auf empirisches, auf sinnlicher Beobachtung basierendes vergängliches Wissen bezogen. Im Gegensatz dazu kann ‘reines Wissen’ nur durch Denken erlangt werden. Als solches, auf empirischem Weg erlangtes Wissen galt die Meinung meist als ein bloßes ‘Für-wahr-halten‘.

Genau jenes ‘Für-wahr-halten‘ der Meinung kann aber auch in einem neutraleren, weniger abwertenden Sinne verstanden werden: Als Hypothese (eine Annahme und Annäherung, die erst überprüft werden muss) oder Kredibilität (ein vorläufiges Verleihen von Glaubwürdigkeit).

Perspektivität der Wahrheit

Diese Sichtweise würde auch die Perspektivität der Wahrheit berücksichtigen, welche ja für Nietzsche selbst immer nur ein ‘Für-wahr-halten‘ eines bestimmten Diskurses oder ein Glaube an ein gewisses Macht-Dispositiv ist.

Die Soziologie versteht unter ‘Meinung‘ eine persönliche Auffassung, die jemand von einer Sache hat. In der Meinung macht sich der Mensch die Welt zu eigen – zu ‘meiner’ Welt und verleiht ihr persönliche Bedeutung.

All unser Vorstellen und Anschauen ist so, dass wir darin etwas, das Seiende, meinen. In jeder Meinung mache ich das Gemeinte zugleich und unausweichlich zum Meinigen. Alles Meinen, das scheinbar nur auf den Gegenstand selbst bezogen ist, wird zu einer Besitznahme und Hereinnahme des Gemeinten in das menschliche Ich.14

Die emotionale Färbung der persönlichen Meinung macht sie anfällig für Manipulationen. So appellieren etwa populistische Politiker (in eigenem Interesse) an den Egoismus von Individuen oder Gruppen.

In der politischen Öffentlichkeit ist deshalb, so Hannah Arendt, ‘Wahrheit’ und ‘Meinung’ nicht mehr zu unterscheiden. Beide müssen sich gleichermaßen ihrer Glaubhaftigkeit erst würdig erweisen.

Satyagraha

Erst indem die Hypothese der persönlichen Meinung, der eigenen Position in der öffentlichen Meinungsvielfalt mit anderen Meinungen, anderen Positionen kollidiert, und mit anderen Hypothesen konfrontiert wird, kommt, so Hannah Arendt, ein öffentlich vermittelnder Reflexionsprozess in Gang. Dieser Prozess führt im besten Fall zu einer Einsicht, die nicht mehr bloß meine eigene Position, sondern das für die ‘gemeinsame Sache‘ (‘res publica‘) gerade Förderliche betrifft. Vielleicht ist es genau diese gemeinsame ‘Wahrheit‘, an der Mohandas Karamchand Gandhi in seiner ‘Satyagraha‘ Haltung festhalten wollte.

Gewaltlose Haltung

Das Für-wahr-halten ist das Sich-halten im Wahren und so ein Sich-halten in dem Doppelsinn: einen Halt haben und eine Haltung bewahren. Dieses Sich-halten empfängt seine Bestimmung aus dem, was als das Wahre gesetzt ist. […] Wo die Haltung [aber] nur die Folge des zu- und untergeschobenen Haltes bleibt, ist sie keine Haltung, weil diese nur hält, wenn sie und solange sie sich selber aufzustellen vermag [selbst ständig ist], indes jene nur an den Halt angelehnte Haltung [die bloße Reaktion] sofort zerbricht, wenn der Halt [die Position des Gegners] weggezogen wird.”15

Hier kommt wieder die ethische Überzeugungskraft der gewaltlosen Haltung ins Spiel. Denn sobald eine Rebellion (so gerechtfertigt sie auch sein mag) gewaltsam ausgetragen wird, ist sie ganz offensichtlich nicht mehr für die ‘gemeinsame Sache‘ förderlich. Vielmehr lässt sie das Eigeninteresse der Gruppe offen zutage treten und verliert gerade dadurch ihre Glaubwürdigkeit.

Meinendes Urteil

Die Meinung ist nicht ein Wissen, wohl aber eine Bewertung, bei der und für die man sich einsetzt, sie ist eine willentliche Handlung oder ein Willensakt. Dieser Akt hat stets die Gestalt eines ‘Urteils’ (Ja oder Nein), das auf die parlamentarische Demokratie die Macht der Kontrolle und die Macht einer Instanz, an der man sich ausrichtet, ausüben muss.”16

Gewaltloser Widerstand schafft die Evidenz für die Annahme, dass es den Rebellierenden nicht bloß um die Durchsetzung von Eigeninteressen geht, sondern um das Gemeinwohl, um die gemeinsame Sache. So erweist sie sich der Hypothese und Hypothek (dem Vertrauensvorschuss) der öffentlichen Meinung würdig.

Macht des Ego?

Die ‘Weigerung, die Begrenzung der individuellen Macht anzuerkennen‘ findet sich, so Bertrand Russell, in allen Menschen.

Es ist gerade dies, was die gesellschaftliche Zusammenarbeit so schwierig gestaltet, denn jeder von uns würde sie gern nach dem Vorbild des Zusammenwirkens von Gott und den ihn Verehrenden sehen, wobei wir selbst die Stelle Gottes einnehmen. Daher Wettbewerb, die Notwendigkeit von Kompromiss und Regierung, der Trieb zur Rebellion, der mit Unsicherheit und periodischer Gewaltanwendung einhergeht. Und daher die Notwendigkeit des Moralischen zur Eindämmung anarchischer Selbstbehauptung.”17

Abgesehen davon, dass Russell damit jenem Diskurs seine Stimme verleiht, der den Egoismus als (einzige) treibende menschliche Kraft auffasst, unterscheidet auch er nicht sehr scharf zwischen Macht und Gewalt. Dass er von der ‘Notwendigkeit der moralischen Eindämmung’ spricht, verrät letztendlich klar die Hobb’sche Wolfssprache.

Gewalt: ein Ausdruck der Macht?

Bertrand Russell vergleicht Macht mit physikalischer Energie, die ständig ihre Form wechselt. So entfalte sich Macht einmal als Reichtum, einmal als öffentliche Meinung und ein anderes Mal als militärische Macht oder eben als Gewalt. Auch für Russell ist also Gewalt nur ein Ausdruck der Macht beziehungsweise der ‘Begierde nach Macht und Herrlichkeit‘. Diese egoistische Begierde sei die mächtigste Antriebskraft für individuelle und gesellschaftliche Veränderungen.

Mimesis und Mitgefühl

Die wissenschaftliche Evidenz, dass auch Mitgefühl und Kooperation dominierende Kräfte der Evolution sind ist hingegen in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen. So weist die neurowissenschaftliche Entdeckung der Spiegelneuronen auf die Bedeutung hin, die der Einfühlung in der Entwicklung von sozialer Kompetenz zukommt. Darüber hinaus prägt das ‘mimetische Gehirn’ auch unsere emotionaler Intelligenz. Evolutionsgeschichtlich kann sogar die Entwicklung des zur verbalen Sprache fähigen menschlichen Gehirns auf diese Spiegelung des Verhaltens zurückgeführt werden.

Bei der Nachempfindung der von anderen Individuen durch Gesten, Mimik und Körperhaltung ausgedrückten Affekte, zeigte sich bei Gehirnwellenmessungen eine Aktivität in eben jenen Gehirnarealen, die auch aktiv wären, wenn man selbst die vom anderen ausgedrückten Affekte empfunden oder die Handlungen, die an anderen beobachtet wurden, ausgeführt hätte.

Affektive Ansteckung

Die von den visuellen Arealen kommenden Informationen, die die Gesichter oder Körper beschreiben, welche eine Emotion ausdrücken, gelangen direkt zur Insel [einem Gehirnareal], wo sie einen autonomen und spezifischen Spiegelmechanismus aktivieren, der sie unmittelbar in den entsprechenden emotionalen Formaten kodiert.”18

Jene Gehirnregion mit dem Namen ‘Insel‘ bildet ein Integrationszentrum, das sensorische Eindrücke (den Gesichtsausdruck und die Gesten eines Anderen) in innere Zustände des eigenen Körpers ‘übersetzt‘. Dies ermöglicht unserem Gehirn, direkt zu erkennen, und unserem Körper direkt zu fühlen, was wir andere tun sehen. Es aktiviert dieselben neuralen (motorischen oder viszeral-motorischen) Strukturen, die für unsere Handlungen und Emotionen verantwortlich sind.

Leibliches Verstehen

Dieses, durch den Spiegelneuronen-Mechanismus ermöglichte, unmittelbare, nachempfindende Verstehen des Verhaltens eines anderen Menschen in ‘erster Person‘, ist die neuronale Voraussetzung für Empathie, die unserem sozialen Verhalten zugrunde liegt.

Empathie allein ist noch kein Mitgefühl, denn ein Sadist kann beträchtliche Empathie mit der Situation eines anderen Menschen haben und sie benützen, um diesen Menschen Schaden zuzufügen. […] Mitgefühl ist [aber] häufig ein Ergebnis von Empathie. […] Wir sollten auch davon ausgehen, dass Empathie an sich etwas moralisch Wertvolles enthält, nämlich die Erkenntnis, dass der Andere ein Zentrum des Erlebens ist.”19

Der Mechanismus der Spiegelneuronen verkörpert, so Giacomo Rizzolatti, auf neuronaler Ebene eine Art leibliches Verstehen, das vor jeder sprachlichen Vermittlung unsere Erfahrung der Mitmenschen prägt. Die affektive Ansteckung ‘von Bauchgefühl zu Bauchgefühl’ via Mimik und Gestikulation lässt uns in gefährlichen Situationen schneller reagieren als es uns durch Reflektieren je möglich wäre.

Gestische Protosprache

Es spricht vieles dafür, dass der Selektionsdruck in Richtung komplexer Kommunikationsformen die Entwicklung eines raffinierten neuralen Kontrollmechanismus der Lautbildung begünstigt hat, der es wiederum ermöglichte, nicht nur die spezifische Hervorbringung der Laute zu kontrollieren, sondern auch eine immer größere, prinzipiell unbegrenzte Menge möglicher Kombinationen zu schaffen und auf diese Weise einen Weg für eine fortschreitende Befreiung des sprachlichen Systems vom gestischen ebnete.”20

So zeigte der Sprachwissenschaftler Sir Richard Paget Anfang der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, wie aus einer gestischen Protosprache eine verbale Protosprache entstanden sein könnte. Er wies die Mimesis zwischen Gesten und Lauten in den Wurzeln zahlreicher Worte in Sprachen nach, die sehr weit auseinander liegen.

Empathie statt Machtmissbrauch

Auf dieser Grundlage und auf der Evidenz der Erfahrung gewaltloser Widerstandsbewegungen zeigt sich, dass die Voraussetzungen für Gewaltlosigkeit (Empathie, Liebe, Kooperation) wesentlich wirkungsvollere und vor allem nachhaltigere Instrumente für sozialen Wandel sind, als die Triebfeder des Egoismus und ihre Begleiterscheinungen (Geltungsdrang, Statusdenken, Konkurrenz- und Verdrängungskampf).

Es geht darum, wie ich meine Macht einsetze. Ich möchte mit anderen Menschen so umgehen, dass wir gemeinsam von dieser Macht profitieren. Es ist aber sehr verbreitet, mit dieser Macht anders umzugehen, Macht über andere haben zu wollen. Eine der beliebtesten Formen von Machtmissbrauch ist zum Beispiel Schuld. Dabei gehen wir davon aus, dass andere Menschen unsere Gefühle kreieren. […] Ein zentraler Aspekt der gewaltfreien Kommunikation ist das Bewusstsein, dass andere Menschen nicht für unsere Gefühle verantwortlich sind. Das einzige, was unsere Gefühle beeinflussen kann ist unsere Haltung, mit der wir reagieren.21

Beide Tendenzen Mitgefühl und Egoismus sind zweifellos im Menschen angelegt. Die gewaltlose Haltung überlässt es aber nicht dem Zufall, welche Tendenz gerade vorherrscht. Die Tendenz zum Egoismus wird in der gewaltlosen Haltung mit der inneren Einstellung überwunden, dass wir nicht getrennt voneinander sind. Gewalt hingegen beginnt damit, dass die Konfliktpartei dämonisiert oder depersonalisiert wird.

Gewalt: Eine Frage der Etikettierung?

Der Angreifende sieht sich selbst als radikal getrennt von uns. Der gewaltlos Agierende erkennt hingegen die Einheit, die der Angreifende aus der Sicht verloren hat. Unsere gewaltlose Antwort auf Gewalt lässt unter Umständen auch den Gegner erkennen, dass er im Unrecht war, indem er sich getrennt sah. Dies trifft vor allem dann zu, wenn er/sie wie Polizisten und Soldaten Befehle ausführt und nicht aus eigener Überzeugung gewaltsam agiert.

Ein wichtiges Element unserer Absicht, einen Angreifer wie einen Menschen zu behandeln, besteht darin, ihn nicht zu ‘etikettieren’. […] Etiketten entpersönlichen, deshalb werden sie von Soldaten oft benutzt, um die angeborene Abscheu zu überwinden, einen anderen Menschen töten.22

Aufhebung der Entfremdung?

Die gewaltlose Haltung intendiert die Aufhebung dieser Entfremdung, die es dem Angreifer ermöglicht, uns zum Feind zu erklären.

Gerade weil Gewaltlosigkeit so sehr von der Integrität und mentalen Stärke des Einzelnen abhängt, spielt das Individuum im gewaltlosen Widerstand eine größere Rolle als in jeder anderen Art des Widerstandes. Denn im gewaltlosen Widerstand kann die Klarheit der Vision zeitweise wichtiger sein als die Anzahl der Teilnehmer.

Mohandas Karamchand Gandhi vergleicht den Prozess des gewaltlos eingestellten Individuums, der inneren Vision zu folgen, mit einem Strom:

Der Ganga verlässt seinen Lauf auf der Suche nach Nebenflüssen nicht. Auch der Satyagrahi verlässt seinen Weg nicht, der scharf wie die Schneide des Schwertes ist. Aber so wie sich die Nebenflüsse spontan mit dem Ganga vereinen, wenn er seinem Lauf folgt, so ist es mit dem SatyagrahaFluss.23

Autorin: Eva Pudill

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Geschätzte Lesezeit: 16 Minuten

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