Im eigenen Tempo

Um ein Trauma verarbeiten zu können ist es notwendig, die traumatischen Ereignisse aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Dies wird durch eine schreibende Auseinandersetzung mit dem Trauma und den Emotionen, die dadurch ausgelöst wurden, erleichtert. Wer sich schreibend mit seinen Konflikten auseinandersetzt, kann das Tempo, in dem er/sie sich mit diesen konfrontiert, selbst bestimmen.

Diese Selbstbestimmung ist gerade für Traumatisierte ein großer Vorteil. Denn in einem persönlichen Gespräch, droht immer die Gefahr eines Kontrollverlustes, wenn der Therapeut zu schnell sensible Themen anspricht. Da es genau ein solcher Kontrollverlust war, der das Trauma ausgelöst hat, kann jede Situation, die dem Traumatisierten zu wenig Freiraum bietet, zu einer Retraumatisierung führen. Jene explosive Mischung aus Angst, Hilflosigkeit und Wut, die sich in Folge des Traumas zusammengebraut hat, überflutet dann unmittelbar Denken und Fühlen.

Selbst wenn die Auseinandersetzung mit dem Trauma im eigenen Tempo stattfinden kann, ist die Konfrontation mit den eigenen Gefühlen für Traumatisierte oft mit Ängsten verbunden. Indem es die mentalen Abläufe entschleunigt, kann uns Schreiben aber dabei helfen, das emotionale Chaos zu ordnen. Denn durch diese Entschleunigung kann sich jenes Areal des Gehirns einschalten, das in panischen Kurzschlüssen regelmäßig übergangen wird: das Frontalhirn. Der ‘Umweg’ über den Präfrontalen Kortex ermöglicht überhaupt erst ein Reflektieren über die Situation.

Frontalhirn

Das Frontalhirn kann die Aktivierung des Mandelkerns [der Amygdala, die als ‘Rauchmelder’ für die Affekte zuständig ist] ebenso dämpfen wie beispielsweise die Schmerzzentren […] das heißt, es hat durchaus ein gewisses Maß an Kontrolle über Strukturen, die emotionale Prozesse vermitteln. Werden Emotionen be-schrieben (so wie man Warzen be-spricht), so wird durch das willentliche Herstellen assoziativer Verknüpfungen zwischen Gedanken und Gefühlen für Bahnungseffekte gesorgt, aus denen bei wiederholtem emotionalen Schreiben langfristig Trainingseffekte und damit letztlich Lerneffekte werden.1

Da in lebensbedrohlichen Situationen für den Organismus jede Millisekunde zählt, wird der etwas längere Schaltkreis über den präfrontalen Kortex übersprungen. Doch so sinnvoll diese Abkürzung in gefährlichen Situationen auch ist. Sie wirkt sich fatal aus, wenn sich diese Nerven-Bahnungen durch jeden ‘Flashback‘ immer tiefer einprägen. Jede überfordernde Situation wirkt dann lebensbedrohlich und ausweglos. Durch diese Abkürzung können emotionale Kurzschluss-Reaktionen ausgelöst werden, die der Traumatisierte im Nachhinein meist furchtbar bereut. Deshalb gilt es, die Bahnung dieser Abkürzung unbedingt zu vermeiden. Die Abkürzungen dürfen nicht zur Gewohnheit werden.

Neue Nervenbahnen

Als Folge eines Traumas werden auch jene Gehirn-Areale übersprungen, die notwendig sind, um Ereignisse zeitlich zu situieren. Dadurch wird die Traumatisierte mit jeder Situation, die ihn an das Trauma erinnert, gefühlsmäßig in die Situation des Traumas zurückgeworfen. Das Trauma und jeder darauf folgende Flashback werden als zeitloser und niemals endender Albtraum erlebt.

Durch die Verlangsamung des Denkens beim Schreiben können neue Verbindungen zwischen Denken und Fühlen erforscht und gebahnt werden. Diese neu entstandenen Nervenbahnen ermöglichen neuen Einstellungen und Verhaltensweisen. Dadurch kann der/die Traumatisierte allmählich auch in Alltags-Situationen, die schnellere Reaktionen und Entscheidungen erfordern, aus seinen beschränkenden Mustern ausbrechen.

Perspektivität

Immer tiefer gehende Analysen der im Schreiben vergegenständlichten Gefühle und Gedanken, ermöglichen den Schreibenden auch, Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und sie in neue Zusammenhänge zu stellen. Dadurch wird es ihm/ihr möglich, aus dem ewigen Kreisen des grübelnden ‘Denkens’ auszubrechen. Die Verlangsamung der Denkprozesse, kann dem/der Schreibenden dadurch auch helfen, emotional bedingten, ressentimentgeladenen Denkfehlern auf die Spur zu kommen.

Feedbackschleife

Die Tatsache, dass eine negative Stimmung negative Gedanken und Erinnerungen verbindet, auch wenn diese Gedanken und Erinnerungen sonst nichts miteinander zu tun haben, führt uns zum Grübeln. Wenn Sie aus irgendeinem Grund schlecht gelaunt sind, aktiviert Ihre Stimmung – sie beleuchtet buchstäblich – jene Knoten in Ihrem Gehirn, die negative Erinnerungen aus der Vergangenheit und negative Denkweisen enthalten. Das macht diese sehr zugänglich: Es ist leichter, […] Verbindungen zwischen den negativen Erfahrungen in Ihrem Leben zu sehen, wenn Sie in schlechter Stimmung sind.”2

Dekonstruktion von insistierenden Überzeugungen

Schlussfolgerungen und Glaubenssätze, die durch das Schreiben zutage gefördert wurden, können anschließend hinterfragt werden. Sind diese Überzeugungen der aktuellen Situation noch angemessen? Hängen die negativen Erfahrungen, die durch die momentane Stimmung verknüpft wurden, wirklich miteinander zusammen? Helfen diese Verknüpfungen wirklich, die momentane Situation besser zu verstehen?

Jeder Gedanke, der aufgeschrieben wurde, kann konsequent verfolgt werden, statt affenartig von Assoziation zu Assoziation zu jagen. Durch dieses Nach-Denken wirkt Schreiben wie ein Mikroskop, mit dem man seine affektgeladenen Gedanken heranzoomen kann. Durch die Entäußerung im Text können wir Erfahrungen ‘vivisektieren’ und so vielleicht in unserer Selbstanalyse zu transformierenden Einsichten kommen. Dieses genauere ‘Hinhören’ auf die Dialoge oder Diskussionen der inneren Stimmen schafft Klarheit. In der Yoga-Philosophie Patañjalis entspricht es ‘Pratyahara‘, dem Nach-innen-richten der Sinne.

Indem Sie dem Impliziten Beachtung schenken, verstehen Sie mehr und mehr seine Bedeutung. Indem Sie die Bedeutung Ihrer Empfindungen und Gefühle verstehen, stellen Sie die Verbindung zwischen Ihrem Großhirn und dem limbischen System wieder her, die durch das Trauma unterbrochen wurde. So sind Sie ihren Wahrnehmungen nicht länger ausgeliefert.”3

Wut-Tagebuch

M.K. Gandhi riet seinem Enkel Arun, der stark unter der Wut litt, die sich durch seine Erfahrungen in Südafrika aufgestaut hatte, ein ‘Wut-Tagebuch‘ zu führen.

‘Jedes Mal, wenn du diese heftige Wut verspürst, hältst du kurz inne und schreibst auf, wer oder was dieses Gefühl ausgelöst hat und warum er oder es dich so zornig gemacht hat’, trug er mir auf. […] Ein Tagebuch der Wut sei nicht dazu da, Dampf abzulassen und sich dabei auch noch im Recht zu fühlen – auch wenn viele Leute es so praktizieren und auf diese Weise ihre Wut eher steigern. […] Es sollte mir helfen, Abstand zu mir selbst zu gewinnen, um den Standpunkt des anderen wahrzunehmen. Das bedeutete aber nicht, der anderen Person und ihrer Ansicht das Feld zu überlassen. Es war eine gute Methode, um eine Lösung zu finden, die nicht noch mehr Ärger und Ressentiments verursachte.”4

Das Trauma von der Seele schreiben

Bei einer Befragung von Traumatisierten, auf welche Weise ihnen Schreiben helfe, mit ihrem Leben fertig zu werden, wurde oft die kathartische Wirkung des Schreibens hervorgehoben.

Einem Brief, den man nie abschickt, einem Tagebuch, das man niemandem zeigt, kann man Gedanken, Gefühle oder Taten anvertrauen, die man keinem Menschen persönlich mitteilen könnte. So wirkt das Schreiben als Ventil und leicht verfügbares Mittel des Ausdrucks, bzw. als ‘einzige Möglichkeit, Unerträgliches loszuwerden.’

Schreiben hilft Traumatisierten auch dabei, mit ‘Flashbacks‘ besser umzugehen – ‘die schrecklichen Bilder auszuhalten und nicht in Entsetzen unterzugehen‘. Außerdem verlieren Ereignisse, die einmal in Worte gebannt wurden, etwas von ihrer angst-erregenden Wirkung.

Bann des namenlose Entsetzens

Der Akt der Benennung führt dazu, dass das namenlose Entsetzen und der übergroße Schrecken ihre Macht verlieren und einen Namen und ein Gesicht bekommen, dem die betroffene Person sich gegenüber stellen kann. […] Die Angst des Menschen vor dem Ungewissen, Rätselhaften, Namenlosen ist größer als seine Furcht vor der konkreten Bedrohung.”5

Das Bewusstmachen und Benennen von Emotionen reduziert ihre Stresswirkung. Doch wie die Befragung ergeben hat, schreiben bei weitem nicht alle Traumatisierte für die Schreibtischlade. Oft besteht auch das Bedürfnis, anderen Mut zu zusprechen und ihnen zu helfen, sich ebenfalls aus ihrer Erstarrung und Isolation zu befreien.

Zeugnis ablegen

Darüber hinaus kann der oder die Traumatisierte durch die kathartische Befreiung von belastenden Ereignissen, ‘der Stummheit etwas entgegensetzen6. Er/Sie kann Zeugnis ablegen: ‘Schreiben, damit niemand mehr leugnen kann, was geschehen ist6. Dies gibt dem/der Schreibenden das Gefühl, nicht hilflos ausgeliefert zu sein und sich zur Wehr setzen zu können. Er/Sie erkennt dadurch seine/ihre Selbstwirksamkeit: ‘Schreiben [oder Erzählen] nimmt die Angst vor der Sprachlosigkeit gegenüber der Gewalt von anderen‘.6 Dieses Zeugnis gibt dem/der Traumatisierten das Gefühl, wieder mehr Kontrolle über sein / ihr Leben erlangen zu können. ‘Die Beschäftigung mit der Sprache hilft, die in der Krise verlorene gedankliche / sprachliche Kontrolle über die Welt / Wirklichkeit neu zu konstituieren‘.6

Zeugnis abzulegen kann auch bedeuten, an etwas Verlorenem festzuhalten oder sich auf etwas einzuschwören; einer neuen inneren Einstellung Ausdruck zu verleihen; oder das Versprechen an sich selbst, einer neuen Haltung konsequent zu folgen. ‘Schreiben führt zu einem Neuanfang, stößt eine Entwicklung an, die sich nicht wieder rückgängig machen lässt.’6

Mit jenen Affekten, die durch das Schreiben veräußerlicht und damit in zeitliche und gefühlte Distanz gerückt werden, kann sich der Traumatisierte leichter auseinandersetzen, als mit unmittelbar empfundenen Emotionen. ‘Schreiben schafft so viel Distanz, dass man über manches Problem lachen kann und sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt‘.6 Mit diesem gewonnenen Abstand lassen sich innere Vorgänge wiederum leichter analysieren. ‘Schreiben, mit der Absicht, sich selbst verständlich zu werden / andere besser zu verstehen.’6

Suche nach dem Sinn

Durch die Konfrontation mit inneren Zuständen, sowie durch den gefühlten Kontakt mit sich selbst, kann die Traumatisierte wieder zu sich selbst finden. Die durch das Schreiben erlangte mentale Klarheit und die Ordnung der Gedanken und Gefühle erleichtern die Bewältigung von Krisen.

Im Zuge der Forschungen um das Schreibparadigma ist unter anderem deutlich geworden, dass in den Prozess des Schreibens sehr viel komplexere und vielfältigere Mechanismen involviert sind, als Katharsis oder Enthüllung allein erklären könnten. Neben physiologischen und immunologischen Effekten scheint expressives Schreiben dazuzuführen, dass sich kognitive Veränderungen einstellen, die letztlich dabei helfen, das Ereignis zu verstehen, in einem Zusammenhang einzuordnen und zu verarbeiten.”7

Verarbeitung von Stigmatisierung und Diskriminierung

Schreiben hilft auch unterdrückten Minderheiten wie den Dalits in Indien. Das Verfassen einer Autobiografie hat den Autoren, wie auch den Lesern dieser Autobiografien geholfen, das kollektive Trauma ihrer Stigmatisierung und Diskriminierung aufzuarbeiten und zu einem Verständnis ihrer eigenen Lage zu kommen. Für Pradnya Lokhandes, Tochter des Dalit-Autors Daya Rawar und Vorstand des Institutes für Marathi-Literatur an einem College in Bombay, ist Schreiben eine ‘Notwendigkeit’.

“‘Eines Tages setzte ich mich hin, um mich freizuschreiben von allem, was mich bewegte, und es formte sich zu Poesie’. […] Doch so unbewusst [Pradnya Lokhandes] zunächst den Geschmack der selbsternannten Kritiker getroffen hatte, so unbeabsichtigt überschritt sie irgendwann die von ihnen gezogenen Grenzen, in der Thematik, im Stil, und in der Wortwahl. Man wollte ihr vorschreiben, welche Sehnsüchte von Dalit-Frauen sie artikulieren, und zu welchen Aspekten der Frau-Mann-Beziehung sie sich äußern dürfe, und ihr zugleich eine Kastenüberschreitende Beschäftigung mit dem Thema Frau untersagen.”8

Autobiografie als politische Handlung

Der bedeutende Dalit-Literat Omprakash Valmiki schrieb im Vorwort zu seinem autobiographischen Roman ‘Joothan‘:

Ich trage seit langem den Wunsch in mir, die Geschichte meiner Schmerzen schriftlich niederzulegen […] Ich begann zu schreiben. Noch einmal musste ich all das Elend, die Qualen […] durchleben. Ich litt tiefe mentale Ängste, während ich dieses Buch schrieb. Wie schrecklich schmerzhaft war diese Enthüllung meiner Selbst, Schicht um Schicht.”9

Indem erstmals Dalits wie Daya Rawar und Omprakash Valmiki ihre Autobiografien verfassten, verwandelten sie ihr, von Ausbeutung bedrohtes Leben (‘Zoé) in eine politischer bedeutungsvolle Existenz (‘Bios‘). So wurde ihr Schreiben zu einem befreienden politischen Akt. Darüber hinaus ermöglichte es den Schreibenden, ihre Stimme zu finden, ihre Perspektive zu reklamieren und nicht mehr länger zur ‘Weltlosigkeit‘ verdammt zu sein. Die Autobiographie wurde zur politischen Handlung und zur ‘zweiten Geburt‘ – nicht nur in der Sprache.

Selbstermächtigung

Dalit-SchriftstellerInnen haben begonnen, ihr eigenes Bild von Indien zu zeichnen, das sich als Jahrtausende altes Kulturland versteht und in dem die Lehre von Ahimsa, der Gewaltlosigkeit entstanden ist.

Dieses Land, es verlangt

Einen Becher voll Blut

Für einen Schluck Wasser.

Wie kann ich es meines nennen

Obwohl es der Welt

Den (leeren) Rat des Friedens gibt‘.

Pralhad Chandwankar.”10

Wenn die post-koloniale Kulturtheoretikerin Gayatri Spivak in ihrem 1990 verfassten Essay die Frage stellte: ‘Can the Subaltern speak?‘ antwortet daher die Literaturkritikerin Arun Prabha Mukherjee im Vorwort zu ihrer Übersetzung von Omprakash Valmikis’ ‘Joothan‘:

Vielleicht sollte eine andere Frage gestellt werden: Kann die dominante Gesellschaft den Subalternen Raum zum Sprechen gewähren?11

Es geht um nichts weniger als um die ‘Gewährung’ jenes Raumes der Gegenöffentlichkeit, der, so Hannah Arendt, notwendig ist, damit sich Freiheit entfalten und eine Gesellschaft öffnen kann. Leider wurde genau das in Indien verabsäumt – mit fatalen Folgen, wie sich jetzt zeigt.

Literarische Ansprüche

Schreiben hilft. Solange es nicht wieder zu einer Überforderung wird. Wenn beim Schreiben plötzlich der Anspruch entsteht, ein literarisches Meisterwerk zu erschaffen, rückt der therapeutische Aspekt des Schreibens in den Hintergrund.

Die literarische Fiktion wird von manchen Autoren und Autorinnen als ‘Ersatzleben‘ empfunden. Sie kann zum Parasiten werden, der dem unmittelbaren Erleben die Energie, Intensität und unabhängige Sinnhaftigkeit entzieht. Denn alles wird fortan nur noch im Hinblick auf die gerade entstehende, literarische Fiktion oder auf die poetische Verdichtung hin erlebt, um Erfahrungen in Sprache zu transportieren. Der Ausdruck in der Kunst kann an die Stelle eines verdrängten Lebens-Wunsches treten und ihn ersetzen, ohne aber über seinen Ersatzcharakter hinwegzutäuschen.

Schreiben statt leben

Schreiben war mein Abwesenheitsverfahren, mit dem ich Anwesenheit simulierte: hergestellte Gelegenheit nach verpasster Gelegenheit, Nähe aus der Ferne, Dispens, der mit Kunst zahlte, was ich einem Menschen schuldig geblieben war […]. Das Gegenüber, auf dem Papier zur Rede gestellt, wurde durch diese Rede aufgehoben. Gefragt wurde es nur der Form nach, mitreden konnte es nicht. Was nicht aufgehoben, sondern nur bekräftigt wurde, war die Distanz.”12

Textuelle Haut

Während Schreiben ohne literarischen Anspruch nachweislich schon vielen Menschen geholfen hat, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen und damit ihr fragiles Gleichgewicht wiederzufinden, geht literarisches Schreiben über eine solche therapeutische Funktion hinaus. Denn hier geht es nicht mehr um die Gefühle, Gedanken und Befindlichkeiten des Individuums, die ihren Ausdruck und ihr Ventil finden wollen, sondern um die Form des Ausdrucks.

Die Form des Ausdrucks steht in der Kunst im Mittelpunkt, nicht mehr (nur) das, was ausgedrückt werden soll. “[Als angehender Schriftsteller] hat man eine Entscheidung von Anfang an gefällt […]. Die Welt als Sprache zu sehen. Es ist der Entschluss, der eigenen Haut ein zweite, textuelle Haut überzuziehen.”13

Mit dieser Entscheidung, für den Ausdruck zu leben, wird Schreiben zu einer Existenzform: Dem ‘schreibend sein‘ (Ernst Jandl). Der literarische Anspruch schließt zwar die Entlastung von psychischen Konflikten nicht aus. Doch der Anspruch selbst kann als Krise erlebt werden, wenn eine Blockade im Schreibfluss entsteht.

Schreibblockade

Letztlich geht es ja darum, sich buchstäblich ‘selbst auszudrücken’, die gedachten Worte und Sätze aus sich herauszupressen im schriftlichen Aus-Druck […]. Weil aber in diesem Prozess des Verfertigens von Texten das Aus-Gedrückte sich immer weiter vom Aus-Drückenden […] entfernt, muss es notwendigerweise durch diese fortschreitende Entfremdung und Verfremdung immer wieder zu Blockierungen kommen. Das entspricht einem völlig normalen psychischen Abwehrmechanismus.”14

Besonders kritisch, vielleicht sogar existenzbedrohend wird eine solche Schreibblockade dann, wenn ein/e Autor/in nicht nur für das Schreiben, sondern auch vom Schreiben lebt. Selbst die produktivsten Autoren kennen solche einfallslosen Phasen. Dennoch, Roman-Autoren, deren Identität durch den ständigen Rollenwechsel besonders fragil ist, leiden mehr als andere unter dieser mehrfachen Sinnkrise.

Quelle der Inspiration

Oft arbeitet es in uns, ohne, dass etwas greifbar wäre auf dem weißen Blatt. Obwohl ich es auch in diesen trockenen Zeiten bin, fällt es mir dann besonders schwer, mich als Schriftsteller zu bekennen. […] [Doch] diese Latenzzeit der trockenen Trunkenheit ist notwendig, damit sich die Legitimation, zu sprechen, neu herausbildet.15

Die Schreibblockade entspricht, so Jürgen vom Scheidt, dem Widerstand in der Psychotherapie. Da solche Widerstände auf verdrängte Inhalte hindeuten, sollten sie nicht bekämpft oder in Alkohol ertränkt werden.

Vielmehr sollte der/die Autor/in sich fragen, woran sich diese Widerstände entzünden, welche Themen die Steine des Anstoßes bilden. Vielleicht stößt er/sie hinter diesen Blockaden auf eine neue Quelle der Inspiration.

Wieder lesen

Anders als mit dem Schreiben von literarisch anspruchsvollen Texten verhält es sich bei der lesenden und interpretierenden Auseinandersetzung mit literarischen Fiktionen. Lesen vertieft unser Einfühlungsvermögen und eröffnet neue Perspektiven. Wir werden dazu angeregt, uns mit den Rollen, die wir freiwillig oder unfreiwillig einnehmen, auseinanderzusetzen.

Auf der Ebene ihrer Rezeption gibt es keine notwendige Differenz zwischen Kunst und Lebenskunst. Denn eine Therapie, die ihren Namen verdient, führt zur Lebenskunst; und eine Kunst, die ihn verdient, steigert die Lebensfähigkeit. Das Kunstwerk ist ein Spielfeld, auf dem die Umgangsformen mit dem Erfüllbaren und dem Unerfüllbaren geübt werden können; das die Erfahrung mit Grenzen ebenso mit Lust besetzt, wie es einlädt zu ihrer Überschreitung. Ja in ‘dürftiger Zeit’ kann das Kunstwerk das einzige Lebensmittel dieser Art sein.”16

Beobachter werden

Durch die Lektüre literarischer Werke lernt der traumatisierte Leser und angehende Schriftsteller darüber hinaus, genau zu beobachten. Sie lehrt uns sowohl die Aufmerksamkeit für die sinnlichen Details des Lebens, als auch für die Finessen des Ausdrucks:

Diese Nachhilfe geht dialektisch vonstatten. Durch die Lektüre werden wir zu besseren Beobachtern, wir wenden das Gelernte auf das Leben selbst an; dadurch werden wir umgekehrt Detail-genauere Leser der Literatur; dies wiederum lässt uns das Leben besser lesen und immer so weiter.”17

Literarisches Durcharbeiten

Die Schärfung des Beobachtungsvermögens an literarischen Texten kann den Schreibenden dabei helfen, ihre Gedanken und Emotionen besser zu analysieren und genauer auszudrücken. Doch erst durch das Lesen des eigenen Textes wird der/dem Schreibenden ein Spiegel vorgehalten. Er/sie kann den Faden der Geschichte ihres Lebens wieder aufnehmen und dort wieder anknüpfen, wo dieser Faden durch die Zäsur des traumatischen Ereignisses abgerissen ist.

Genaugenommen beruhen auch die Einsichten, die der Schreibende mit seinen eigenen Texten erlangt, auf dem Lesen und Interpretieren des selbst Geschriebenen. Aus der Distanz zum Ausgedrückten kann der Schreibende Redundanzen, Widersprüche und Denkmuster erkennen, die ihn/sie daran hindern, Vergangenes loszulassen. Das Lesen und Überarbeiten des selbst verfassten Textes, das heißt die Konfrontation mit den ausgedrückten Emotionen, entspricht dem ‘Durcharbeiten‘ in einer Gesprächspsychotherapie.

Was wäre wenn …?

Durch die Lektüre von literarischen Fiktionen gelangt der Lesende zu Denkanstößen, wie bestimmte Konflikte anders als gewöhnlich gelöst werden könnten. Die Lektüre von literarischen Fiktionen weckt deshalb den ‘Möglichkeitssinn‘, der uns hilft, neue Wege des Denkens zu finden.

Jedes Moment überraschender Brechung in einem Handlungsablauf zeugt von einer möglichen anderen Geschichte als derjenigen, in der der strukturelle Mensch verhaftet ist. Jede unversöhnliche Einzelheit ist eine Anstiftung zum Aufstand gegen erdrückende Rituale.”18

Was beim Autor oder der Autorin oft das unmittelbare Erleben verhindert, ist gerade der eingefleischte Einwand: ‘Aber es könnte doch auch anders sein!’. Oder die Frage: ‘Was wäre, wenn …?‘ die, so Hermann Burger, am Anfang jeder literarischen Erkundung steht.

Vorstellungen ermöglichen uns, neue Handlungsmuster zu erfinden, die sich auf neuartige Situationen anwenden lassen, und Pläne für künftige Handlungen zu entwerfen. Hier erschließt sich uns ein Quell der Kreativität, dem wir die Fähigkeit verdanken, Vorstellungen von Handlungen und Szenarien endlos abzuwandeln und zu kombinieren.”19

Ästhetische Distanzierung

Sowohl Mangel als auch Überfluss an alternativen Handlungsoptionen kann zum Leiden am Leben führen. Im einen Fall leidet man an der Unmittelbarkeit und vermeintlichen Ausweglosigkeit, im anderen Fall an der Distanz zum Erlebten, die aus einem Zuviel der Vermittlung entsteht. Zu viele Möglichkeiten, zu viel Interpretation, zu viele Erwägungen, wie das Erlebte für die literarische Fiktion ‘ausgebeutet’ werden könnte, treten zwischen Leben und Erlebenden.

Ein vollkommener Künstler ist in alle Ewigkeit von dem ‘Realen’, dem Wirklichen abgetrennt; andererseits versteht man es, wie er an dieser ewigen ‘Unrealität’ und Falschheit seines innersten Daseins mitunter bis zur Verzweiflung müde werden kann, – und dass er dann wohl den Versuch macht, einmal in das gerade ihm Verbotenste, ins Wirkliche überzugreifen, wirklich zu sein. Mit welchem Erfolg? Man wird es erahnen …20

Möglichkeitssinn

Mit seinem Ausspruch: ‘Die Wirklichkeit ist das schönste Kompliment an die Möglichkeit‘ hat Johann Nestroy die literarische Aufwertung des ‘Möglichkeitssinn‘ auf die Spitze getrieben. Auch wenn es vom Autor gar nicht beabsichtigt war, holt die Wirklichkeit manchmal die absurdeste Fiktion ein oder überholt sie gar. Doch diese Koinzidenz ist nebensächlich. Sie ist ein bloßes ‘Kompliment’ an den Erfindungsreichtum des Autors oder der Autorin. Was zählt, ist vielmehr die literarische Gegenwelt zur vorherrschende Realität.

In der Sprache zuhause

Im nach-denkenden Schreiben kommt das Sein zur Sprache. Martin Heidegger bezeichnete deshalb die Sprache als ‘Behausung’ des Menschen, und die Denker und Dichter als ‘Wächter’ dieser Behausung. In der Sprache ist der Mensch zu Hause, da es ihm eigen ist, sich sinnhaft mit der Welt zu verbinden.

Das Denken ereignet sich, so Heidegger, vom Sein her, das heißt, es ist, wenn es nicht technisch, ideologisch oder wissenschaftlich instrumentalisiert wird, ein perspektivisches Sinn-stiften.

Sinnlosigkeit unvermittelter Gewalt

Diese Sinnstiftung ist vielleicht der wichtigste Aspekt der schreibenden Auseinandersetzung mit Krisen und Traumen. Meist ist es gerade die Sinnlosigkeit des traumatischen Ereignisses oder der unser Weltverständnis erschütternde, fundamentale Vertrauensverlust durch Gewalterfahrungen, die uns am meisten belasten.

Gewalt bewirkt beim Opfer eine Veränderung des Weltverständnisses. Sie schränkt unserer Kraft ein, das Erlebte schöpferisch zu interpretieren und zu integrieren. Denn es gehört gerade zum Wesen der Gewalt, unvermittelt zu sein. Dieses, vom Opfer als Sinnlosigkeit empfundene, Fehlen jeglicher Vermittlung ist es, das sich neben der rein physischen Einwirkung so fatal auf die Psyche des oder der Traumatisierten auswirkt. Schreiben kann dabei helfen, selbst in traumatischen Geschehnissen oder Krisen einen singulären Sinn zu entdecken.

Annehmen des Schmerzhaften

Sich schreibend zu erinnern heißt im Grunde: in die Tiefen des Brunnens hinabsteigen und all das noch einmal zu erleben, was einem in früheren Jahren Schmerzen zugefügt hat. Es ist eine uralte Erfahrung, dass nur das Annehmen des Schmerzhaften auch den Weg freimacht für die Erinnerungen angenehmer Art. […] Wer schreibt, ‘reproduziert auf psychischen Gebiet’ und auf dem Papier. Er kann damit zum Deuter seiner eigenen Erfahrungen werden. Im glücklichen Fall […] sogar zum Deuter und Sinngeber der gesamten Existenz, auch der Existenz anderer Menschen, ja der gesamten Menschheit.21

Durch den Wechsel der Perspektive und die Neubewertung des Erlebten, die im Laufe des Schreibprozesses stattfinden, kann ein an sich sinnloses, traumatisches Ereignis in eine sinnvolle Erfahrung umgewandelt werden.

Der Existenz einen neuen Sinn geben

Auch Viktor FranklsLogotherapie‘ beruht auf der These, dass es das Leiden an der existenziellen Sinnlosigkeit ist, das für Menschen am schwersten zu ertragen ist. Der von ihm entwickelten Existenz-analytischen Therapie liegt die anthropologische Prämisse zugrunde, dass die Frage nach dem Sinn der Existenz spezifisch menschlich sei.

Im Zusammenhang mit Logotherapie meint ‘Logos’ Sinn. Tatsächlich geht menschliches Da-sein immer schon über sich hinaus, weist es immer schon auf einen Sinn hin. In diesem Sinne geht es dem Menschen nicht nur um Lust oder Macht, aber auch nicht um Selbstverwirklichung, vielmehr um Sinnerfüllung. In der Logotherapie sprechen wir da von einem ‘Willen zum Sinn’.”22

Der Mensch kann, wie Viktor Frankl selbst, der das Konzentrationslager überlebt hat, unerträglichste Lebensbedingungen überstehen, wenn es ihm/ihr gelingt, an einer inneren Wahrheit oder an einem Sinn festzuhalten.

Gründe, am Leben festzuhalten

Zunächst einmal kann mein Leben dadurch sinnvoll werden, dass ich eine Tat setze, dass ich ein Werk schaffe; aber auch dadurch, dass ich etwas erlebe – etwas oder jemanden erlebe, und jemand in seiner ganzen Einmaligkeit und Einzigartigkeit erleben heißt, ihn lieben. Es geschieht also entweder im Dienst an einer Sache oder aber in der Liebe zu einer Person, dass wir Sinn erfüllen – und damit auch uns selbst verwirklichen.23

Das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen, das Festhalten an der Wahrheit, sowie Solidarität, Liebe, Hoffnung, aber auch der religiöse Glaube können in extremen Lagen zu sinn-stiftenden Lebensrettern werden, indem sie uns die mentale Stärke verleihen, durchzuhalten.

Autorin: Eva Pudill

>> LITERATUR

Geschätzte Lesezeit: 19 Minuten

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