Gandhi und das Kasten-System

Auch wenn Mohandas Karamchand Gandhi gezeigt hat, dass mit Gewaltlosigkeit ein politischer Befreiungskampf gewonnen werden kann. Sein Verhältnis zu Bhimrao Ramji Ambedkar und den Dalits wirft ein ganz anderes Licht auf ihn. Gandhi lehnte, im Gegensatz zu Ambedkar, das Kasten-system nicht ab, sondern wollte es bloß reformieren. Er steht damit in einer Tradition von Reformern:

Ram Mohan Roy 1772-1833 Gründer der ‘Brahmo Samaj‘, Dayananda Sarawati (1824-1883) und seiner ‘Arya Samaj‘, der von Swami Vivekananda (1863-1902) gegründeten ‘Ramakrishna-Mission‘, sowie Rabindranath Tagore, Sri Aurobindo und Sarvepalli Radhakrishnan.

Harijan

Gandhis Verhältnis zu den ‘Unberührbaren‘ war, so Arundhati Roy, in ‘The Doctor and the Saint‘ von einer herablassenden und vereinnahmenden Haltung geprägt. ‘Avarna(Kastenlose), die Gandhi in paternalistischer Manier ‘Harijan‘ (‘Kinder Vishnus‘) nannte, sollten zwar gesetzlich vor der Gewalt durch ‘Savarnas‘ (Kasten-Hindus) geschützt werden, doch sie sollten keine Möglichkeit bekommen, politisch für sich selbst zu sprechen.

Der indische Soziologe Gopal Guru kritisiert den Begriff ‘Harijan‘, denn dieser Begriff ghettoisiere Kastenlose und impliziere ein Element des ‘sich in sein Schicksal fügen‘. Heute wird die Bezeichnung ‘Unberührbare/r’ durch ‘Dalit‘ ersetzt, was auf Marathidurch die Stigmatisierung gebrochenes Volk‘ bedeutet.

Die Bejahung dieser Identität ist nur der Ausgangspunkt, ihre Negation ist der Höhepunkt. Sie kann als kollektiver Monolog des Widerstands definiert werden. ‘Ja, wir waren die gebrochenen Menschen, wir wurden unterdrückt, aber von nun an werden wir […] es Euch – den dominierenden Kasten – nicht mehr erlauben, dass Ihr uns brecht und unterdrückt’.”1

Stigmatisierung

Die Dalit-Autorin Bama, beschrieb im Jahr 2000 in ihrer autobiographischen Geschichte, wie sich diese Stigmatisierung anfühlt:

Die Leute verdrehen ihre Gesichter und sehen uns mit Abscheu an, sobald sie unsere Kastenzugehörigkeit erfahren. Es ist unmöglich, die Qual zu beschreiben, die uns solche Blicke verursachen. Aber neben der Qual empfinden wir auch eine große Wut. […] Wieso halten uns die Leute für so abscheulich, dass sie in einem Verkehrsmittel nicht einmal neben uns sitzen wollen? Sie sehen uns mit dem gleichen Blick an, mit dem sie einen Menschen anblicken würden, der an einer ekelerregenden Krankheit leidet. Wo immer wir hingehen, erleiden wir Schläge. Und Schmerz. Wird es nie eine Erleichterung geben? Sind Dalits keine Menschen?2

Bhangis

Die ‘Aufgabe’ der urbanen, oft aus dem Norden Indiens stammenden Kastenlosen – der ‘Bhangis‘, ‘Chuhras‘ und ‘Mehtars‘, (sogenannte ‘Jatis‘ / Subkasten) – war und ist in Maharashtra und anderen indischen Staaten die Reinigung der Latrinen und bis heute: die Reinigung der Eisenbahngleise von Exkrementen – mit bloßen Händen.

Manuelle ‘Spülung’ ist keine Karriere, die von den Arbeitnehmern freiwillig gewählt wird, sondern eine zutiefst ungesunde, unappetitliche und würdelose Arbeit, die diesen Menschen aufgrund ihres Stigmas, das mit ihrem [Nicht-]Kasten-[Status] verbunden ist, aufgezwungen wird. Die Art der Arbeit selbst verstärkt dann dieses Stigma.”3

Obwohl diese Praxis seit 1993 in Indien per Gesetz verboten ist, wird vonseiten der Politik nichts unternommen, um die Situation der ‘Bhangis‘ zu ändern.

Obwohl es gegen das Gesetz verstößt, ist die Indische Bahn einer der größten Arbeitgeber für manuelle Kot-sammler. Ihre 14.300 Züge befördern täglich fünfundzwanzig Millionen Fahrgäste über 65.000 Kilometer. Ihre Scheiße wird durch 172.000 offene Toiletten direkt auf die Eisenbahnschienen geschleust. Diese Scheiße, die mehrere Tonnen pro Tag ausmachen muss, wird von Hand, ohne Handschuhe oder Schutzausrüstung, ausschließlich von Dalits gereinigt.4

Gandhi über die Bhangis

Gandhi, der seine ‘schützenswerten Kinder‘ wörtlich für ‘dumm wie eine Kuh’ und ‘nicht lernfähig‘ hielt, glaubte das Problem ihrer Demütigung aus der Welt schaffen zu können, indem er die ihnen vom Kastensystem zugewiesene Sphäre des ‘Latrinen-Dienstes‘, aufwertete:

Die Position, nach der ich mich wirklich sehne, ist die des Bhangi. Wie heilig ist sein Werk der Sauberkeit! Diese Arbeit kann nur von einem Brahmanen oder von einem Bhangi geleistet werden. Der Brahmane kann es in seiner Weisheit tun, der Bhangi in Unwissenheit. Ich respektiere und verehre beide. Wenn einer der beiden aus dem Hinduismus verschwindet, würde der Hinduismus selbst verschwinden. Und gerade weil mir Svadharma am Herzen liegt, liegen mir die Bhangi am Herzen. Ich sitze vielleicht sogar bei meinen Mahlzeiten mit einem Bhangi an meiner Seite, aber ich verlange nicht, dass Sie sich durch gemeinsame Abendessen und Ehen mit ihnen verbinden.”5

Narendra Modi über die Bhangis

Wenn es darum geht, die Existenz der Bhangis zu rechtfertigen und schönzufärben verschwinden in Indien die Unterschiede zwischen rechts und links:

Narendra Modi: “Ich glaube nicht, dass sie [die Bhangis] diese Arbeit nur getan haben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wäre dies so gewesen, hätten sie diese Art von Arbeit nicht Generation für Generation fortgesetzt … Irgendwann muss jemand die Erleuchtung gehabt haben, dass es ihre Pflicht ist, für das Glück der ganzen Gesellschaft und der Götter zu arbeiten; und diese Arbeit sollte als interne spirituelle Aktivität über Jahrhunderte hinweg weitergehen.”6

Indien hat zwar das technische und finanzielle Potenzial, eine Atombombe zu bauen und ist stolz auf sein ‘Silicon Valley‘ in Bangalore, aber für ein modernes Sanitärwesen scheinen diese Potenziale nicht auszureichen.

Mediengerechte Inszenierung

Es bleibt die Frage, ob Gandhi einen klaren Blick auf die Realität der Kastenlosen hatte, wurde doch vor seinen Public-Relation Besuchen in den Siedlungen seiner geliebten Bhangis immer erst gründlich aufgeräumt:

Die Hälfte der Bewohner wurde vor seinem [Gandhis] Besuch ausgesiedelt und die Hütten der Bewohner abgerissen und an ihrer Stelle ordentliche kleine Hütten gebaut. Die Eingänge und Fenster der Hütten wurden mit Matten abgeschirmt und während der Dauer von Gandhis Besuch immer wieder mit Wasser besprüht, um einen Kühleffekt zu erzielen. Der örtliche Tempel wurde weiß gewaschen und neue gemauerte Wege wurden gelegt.”7

Die Kulissen-Dörfer, die Gandhi besuchte und der Weltpresse präsentierte, waren nicht aus Wellblech. Wurden diese Bhangi-Hüttchen doch von einem Großindustriellen gesponsert: von Ghanshyam Das Birla, Gandhis großzügigstem Unterstützer.

Gandhi und seine Gita

Abgesehen davon, war Gandhi überzeugt von der ewigen Gültigkeit der heiligen Schriften des Brahmanismus. Selbst die für ihn so wichtigen Begriffe ‘Satyagraha‘ und ‘Ahimsa‘ bezogen sich auf den ‘Dharma‘ Begriff in der Bhagavad Gita. Der Umstand, dass er gerade diesen belasteten Begriff auf die Pflicht zur Gewaltlosigkeit und zur Wahrheit bezog, zeigt, wie sehr seine Begrifflichkeit dem Brahmanismus verpflichtet war. Dieser Bezug auf die Bhagavad Gita wäre nicht notwendig, um die Verbindlichkeit dieser beiden Prinzipen zu betonen. Denn schon bei Patanjali sind ‘Ahimsa‘ und ‘Satya‘ Gelübde, denen unter allen Umständen Folge geleistet werden soll.

Existentiell […] galten für Gandhi keine kulturellen oder metaphysischen Beschränkungen für die Praxis der Gewaltfreiheit. Begrifflich gesehen ist es jedoch eine andere Geschichte. Gandhi entwarf seine Ideen streng in Bezug auf ihre Verbindung zu bestimmten brahmanischen Weltanschauungen und betonte ihre Verbindung zu bestimmten hochspezifischen begrifflichen und ontologischen Annahmen. Während Ahimsa für Gläubige aller Art existentiell offen zu sein scheint, scheint es epistemisch an die vedische Tradition gebunden zu sein, eine Verbindung, die Gandhi zwar nicht explizit bejaht, die er aber nur ungern zu durchtrennen scheint.8

Die Segregation der Kasten hatte ihren Ursprung, so wird vermutet, in der ‘Purusha Sukta Hymne‘, dem 10. Buch der ‘Rigveda‘ (zwischen 1200 und 900 v. Chr.). Dem Purusha-Hymnus zufolge, gehen die vier ‘Varnas‘ aus dem kosmischen Urmenschen hervor. ‘Varna‘ bedeutet wörtlich: eine Farbe, die den Kasten jeweils zugeordnet ist: Brahmanen: weiß, Kshatriya: rot, Vaishyas: gelb, Shudras: schwarz.

Varna-System

Der Brahmane war [des mythischen ‘Urmenschen’] Mund, die Arme wurden zum Kshatriya gemacht, seine Schenkel zum Vaishya, aus seinen Füßen entstanden die Shudras.”9 Am offenbarsten tritt der grausame Charakter der Kastenhierarchie jedoch in den ‘Manu-Smriti‘ hervor. Die Gewaltsamkeit des Kastensystems ist dieser Schrift eingeschrieben.

Das Varna-System ist keineswegs eine Beschreibung sozialer Wirklichkeit. Im täglichen Leben zählt vielmehr die Jati (Geburt), also die Subkaste, in die man hineingeboren wird. Jatis zeichnen sich durch Endogamie (Heirat nur unter Angehörigen der Jati) und Kommensalität (Tischgemeinschaft) aus. Sie sind wiederum in diverse exogame Gruppen wie Sippen oder Clans (innerhalb derer eine Eheschließung verboten ist) unterteilt. Der Name einer Jati leitet sich oft von einem Beruf her […] der Name kann sich aber auch von einem Ritus oder Ort herleiten. Die Zahl der Jatis war nie konstant; so konnten stets neue Gruppen – etwa Stämme, mit denen man gerade erst in Kontakt gekommen war – leicht als eine oder mehrere Jatis in das System integriert werden.”10

Auch die Hierarchien zwischen den Jatis waren nicht in Stein gemeißelt. So kam es oft durch gesellschaftliche Umbrüche und Migrationen zu Verschiebungen in den hierarchischen Beziehungen zwischen den Jatis.

Jati

Die indische Historikerin Romila Thapar geht von der These aus, dass “die beiden [Begriffe ‘Varna’ und ‘Jati’] unterschiedlichen Ursprungs waren und erst im Laufe der Geschichte die Jatis in die Varnas eingegliedert wurden.”11

Die Jatis könnten, so Romila Thapar, aus der viel älteren ‘Indus-Tal Kultur‘ stammen (deren Schrift noch nicht entziffert werden konnte). Später, als diese Kultur unterging, wurden dieser differenzierten, gesellschaftlichen Stratifizierung die arischen, auf Reinheit, Hierarchie und Berufsspezifizierung basierenden Varnas ‘übergestülpt’.

Reinheit und Unreinheit

In dieser jüngeren, arisch-brahmanischen Gesellschaftsordnung erforderte die absolute Reinheit der einen Gruppe (der Brahmanen) das Gegengewicht der absoluten Unreinheit der anderen. “Die Skala von Reinheit und Verschmutzung ist ein Organisationsprinzip […] im sozialen Raum des Hinduismus.”12

Was die Orientierung noch erschwert ist, dass die Jatis in verschiedenen Landesteilen oft einen anderen Status haben.

Obwohl sich in den Extremen [der brahmanischen Reinheits-Normen] kulturelle Leitvorstellungen zeigen, ist eine absolute Bestimmung von Reinheit nicht möglich […]. Eine Bestimmung von Reinheit kann es daher nur in wechselnden und sich verändernden Abgrenzungen zu Unreinem geben. […] Ein solches Modell setzt immer mindestens zwei Personen voraus. Wer darf wen berühren, wer wessen Haus betreten, wer mit wem speisen, oder wer wessen Tochter heiraten? Aus den Begegnungs- und Tauschformen lassen sich Reinheit und Unreinheit bestimmen, aus ihrer Gesamtheit sogar eine sozio-rituelle Hierarchie der Familienverbände und Subkasten.”13

Babasaheb

Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956) bekannt auch unter dem Ehrennamen ‘Babasaheb‘, war, wie M. K. Gandhi, Rechtsanwalt, Politiker und Sozialreformer. Er war selbst Dalit und hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, ‘unberührbar’ zu sein. Ambedkar wuchs mit der ‘Bhakti‘-Tradition auf. Sein Vater machte ihn und seine Geschwister aber auch mit den Hindu-Erzählungen bekannt. Die Bhakti-Bewegung bot Kastenlosen einen von Kaste und Geschlecht unabhängigen, mystischen Zugang zur Spiritualität. Die bekanntesten Bhakti-Poeten waren Kabir, Tulsidas, Gangasati.

Mahars

Das ‘Mahar Regiment‘ hat im 17. Jahrhundert dem Maratenkönig Shivaji gedient. Nach dessen Tod führten die ‘Peshwas‘ ein streng brahmanisches Regime. Sie unterdrückten die ‘Mahars‘ und behandelten sie entwürdigend. Deshalb wechselten diese zur Britischen Armee. Die Urbanisierung der Mahars – einer ‘unberührbaren’ Jati – führte dazu, dass sie sich schneller politisch organisierten, als andere unberührbare Subkasten.

Ambedkars Erfahrungen mit Demütigung und Ungerechtigkeit begannen schon in der Kindheit. Er durfte zwar eine Schule für Kasten-Hindus besuchen. Doch musste er abseits der anderen Kinder auf einem Sack sitzen um den Boden nicht zu ‘verunreinigen’. Er blieb den ganzen Tag durstig, da er nicht vom selben Wasserhahn trinken durfte wie die Kasten-Hindus.

Studium bei John Dewey

1907 immatrikulierte Ambedkar als einziger Unberührbarer in der ‘Elphinstone‘ Highschool. Dort wurde er seinem langjährigen Unterstützer, dem fortschrittlichen Maharaja von Baroda vorgestellt. Dieser ermöglichte ihm später, an der Columbia Universität in New York bei John Dewey zu studieren. Dort verfasste er auch seine bahnbrechenden Schrift ‘Castes in India: Their Mechanism, Genesis and Development‘. Ambedkar argumentierte in dieser Schrift, dass die Kaste weder mit Rasse noch mit Klasse gleichgesetzt werden könne. Vielmehr bildet sie eine eigene, in sich geschlossene soziale Kategorie.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Indien studierte er in London Wirtschaft und Rechtswissenschaften. Schließlich kehrte Ambedkar wieder nach Indien zurück, und wollte sein Stipendium als Beamter des Maharajas von Baroda abarbeiten. Doch er fand er als Unberührbarer keine Wohnung und wurde selbst von seinen christlichen und muslimischen Studienkollegen gemieden. Schließlich ging er nach Bombay, wo er als Professor am ‘Sydenham College‘ lehrte.

India Depressed Classes Conference

Um die Dalits mit ins Boot der Unabhängigkeitsbewegung zu holen, fasste die Kongress-Bewegung 1917 den Vorsatz, die Unberührbarkeit abzuschaffen. In Bombay fand 1917 unter dem Vorsitz von Ambedkar’s Gönner Maharaja Gaekwad die erste ‘All-India Depressed Classes Conference‘ statt. Ambedkar betrachtete diese Bemühungen fortschrittlicher Brahmanen und der Kongress-Bewegung um die Abschaffung der Unberührbarkeit jedoch eher mit Skepsis. Er sah in der Unberührbarkeit nur die äußerste, ritualisierte Ausformung des Kastenwesens.

Die wirkliche Gewalt war die Verweigerung von Rechten: auf Land, Reichtum, Wissen und Chancengleichheit. In ländlichen Gebieten verblasste die Bedrohung durch tatsächliche Gewalt manchmal vor dem Gespenst des ‘Sozialboykotts’, den orthodoxe Hindus gegen jeden Unberührbaren verkündeten, der es wagte, dem System zu trotzen.”14

Unberührbarkeit

Um das Kastensystem als solches und seine politischen und sozialen Ausschlussmechanismen nicht antasten zu müssen, griffen die Hindu-Reformer das Problem der Unberührbarkeit heraus und isolierten es aus seinem Kontext.

Ambedkar war dagegen überzeugt, dass sich das Problem der Unberührbarkeit nicht lösen lasse, solange den Dalits nicht möglich sei, sich politisch zu organisieren und eine unabhängige Repräsentation im Parlament zu erhalten.

Deshalb entwickelte er – vielleicht angeregt durch die ‘Morley-Minto Reform‘, die separate Wahlen für Muslime eingeführt hatte – die Idee von separaten Wahlen für Unberührbare.

Recht auf politische Repräsentation?

Das Recht auf politische Repräsentation und das Recht, im Rahmen des Staates ein Amt zu bekleiden, sind die beiden wichtigsten Rechte, die die Staatsbürgerschaft ausmachen. Aber ihre Unberührbarkeit rückte diese Rechte weit jenseits der Grenze ihrer Möglichkeiten. An einigen wenigen Orten besitzen sie nicht einmal so unbedeutende Rechte wie persönliche Freiheit und persönliche Sicherheit, und die Gleichheit vor dem Gesetz ist für sie nicht immer gesichert. Dies sind die Interessen der Unberührbaren. Und wie man leicht erkennen kann, können sie von den Unberührbaren allein vertreten werden.”15

Der gewaltlose Widerstand der Dalits

Wenig bekannt ist, dass auch Unberührbare in ihrem Kampf gegen ihre Rechtlosigkeit, Satyagraha-Aktionen durchgeführt haben. Eine davon war die ‘Vaikom-Satyagraha‘ in Kerala 1924. In dieser Protest-Aktion ging es schlicht um das Recht von Shudras und Dalits, die Straße, an der der Tempel lag, zu benutzen. Ein Anführer dieser Satyagraha war der Syrische Christ, Georg Joseph, ein Anhänger Gandhis. Gandhi kam jedoch nur nach Vaikom um den Protestierenden zu raten, die Satyagraha-Aktion abzubrechen.

Gandhi begrüßte die Satyagraha der Dalits und Shudras nicht. Ganz im Gegenteil, er verdammte ihren gewaltlosen Kampf um ihre Würde und ihre Rechte regelrecht. 1927 fand die ‘Mahad Satyagraha‘ im Bundesstaat Maharashtra statt, die von Ambedkar geleitet wurde. Es ging darum, dass Dalits, wie alle anderen, das Wasser des Chowddar Wasserreservoirs benutzen wollten. Im August 1923 hatte der ‘Bombay Legislative Council‘ beschlossen, dass Unberührbare alle Plätze nutzen dürfen, die vom Staat gebaut worden sind und erhalten werden.

Symbolische Verbrennung der Manu-Smrti

In der Bombay-Provinz Mahad konnte der Beschluss wegen des Widerstandes der Kasten-Hindus jedoch nicht durchgesetzt werden. An der Konferenz, die vor den Marsch nach Mahad stattfand, nahmen tausende Dalits teil. Ambedkar hielt eine Rede und verbrannte rituell ein Exemplar der ‘Manu-Smriti‘.

Ambedkar: “Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unberührbarkeit keine einfache Sache ist; sie ist die Mutter all unserer Armut und Niedrigkeit und hat uns in den erbärmlichen Zustand gebracht, in dem wir uns heute befinden. […] Die Ungleichheit, die dem Vier-Kasten-System innewohnt, muss ausgerottet werden. Unsere Arbeit hat begonnen, eine wirkliche soziale Revolution herbeizuführen. Ich bete zu Gott, dass sich die soziale Revolution, die heute beginnt, mit friedlichen Mitteln vollziehen möge.”16

Gandhis scharfe Verurteilung

Einige Monate später hielt Gandhi eine Rede im Rahmen der ‘All-India Suppressed Class Conference‘ in Lahore, in der er die Dalits aufforderte: “[Kämpft für eure Rechte durch] süße Überzeugungskraft und nicht durch Satyagraha, die zu ‘Duragraha’ [teuflische Kraft] wird, wenn sie die tief verwurzelten Vorurteile des Volkes schockieren soll.17

Ambedkar war einer der schärfsten Kritiker der Kongress-Bewegung und Gandhis. Denn dieser maß sich an, für alle zu sprechen: für Hindus, Muslime, Christen, Sikhs, Buddhisten, Jains, Parsi; für privilegierte Kasten, Kastenlose, Bauern, Landlose, Zamindari, Arbeiter und Großindustrielle. Eine Aufgabe, die nur schwer zu verwirklichen ist, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln.

Ambedkar wird zu Gandhis schärfsten Kritiker

Ambedkar: “Es ist töricht, Trost in der Tatsache zu suchen, dass die Kongress-Bewegung, weil sie für die Freiheit Indiens kämpft, deshalb auch für die Freiheit des indischen Volkes und der untersten der unteren Schichten kämpft. […] Die Frage, ob der Kongress für die Freiheit kämpft, hat sehr wenig Bedeutung im Vergleich zu der Frage, für wessen Freiheit der Kongress kämpft.18

Während seiner ersten Konfrontation mit Ambedkar während der zweiten ‘Round Table Gespräche in London‘, hatte Gandhi deshalb keine Hemmungen, zu Ambedkar zu sagen: “Ich beanspruche, in meiner Person die große Masse der Unberührbaren zu repräsentieren.19

Ambedkar ein Verräter?

Ambedkar wurde oft als Verräter bezeichnet. Denn er hatte auf der ersten Round Table Konferenz in London auf eigene Faust und mit Erfolg Zugeständnisse für die Dalits ausgehandelt. An dieser ersten Runde der Verhandlungen über die Verwaltung Indiens hatte Gandhi und die Kongress-Bewegung aus Protest nicht teilgenommen.

Da die Unberührbaren seit Jahrhunderten entwertet und ausgeschlossen worden sind, sollten sie in separaten Wahlen ihre Vertreter wählen und zusätzlich an den normalen Wahlen teilnehmen können.

Verhinderter Erfolg

Ein Jahr später verkündete Ramsay MacDonald die Entscheidung der Britischen Regierung. Sie sprach den Unberührbaren separate Wahlen für zwanzig Jahre zu. Gandhi war über Ambedkars Erfolg so erbost, dass er vom Gefängnis aus verkündete, er würde in den Hungerstreik treten, sollten die Britische Regierung dieser Beschluss nicht wieder zurückziehen. Dieses Fasten (das Gandhi wenn nötig ‘bis zu seinem Tod‘ fortführen wollte) war eine glatte Erpressung und absolut gegen seine Maximen von Ahimsa.

Ahimsa? Gandhi’s erpresserischer Fasten-Streik

Der Druck auf Ambedkar erhöhte sich nur noch, als die Briten verkündeten, sie würden ihr Versprechen nur dann zurückziehen, wenn die Unberührbaren zustimmten. Ambedkar hatte keine Chance. Nach dem vierten Tag von Gandhis ‘Duragraha‘, besuchte Ambedkar ihn im Gefängnis. Er unterzeichnete widerstrebend den ‘Poona Pact‘, der nur noch reservierte Sitze für Dalits im Parlament vorsah.

Ambedkar wusste, dass dies nicht ausreichen würde, um wirklich einen Wandel zu bewirken. Denn höher-kastige Politiker würden einfach Strohleute aufstellen, die nach ihren Richtlinien handelten. Auf diese Weise würde sich weiterhin niemand um die Belange der Dalits kümmern.

Ambedkar: “In diesem Fastenstreik war nichts Edles. Es war ein abstoßender und widerlicher Akt … die schlimmste Form der Nötigung gegen hilflose Menschen, jene verfassungsmäßigen Garantien aufzugeben, die ihnen vom englischen Premierminister zuerkannt worden waren, und sich bereitzuerklären, den Hindus ausgeliefert zu sein. Es war eine abscheuliche und böse Tat. Wie können die Unberührbaren einen solchen Mann als ehrlich und aufrichtig ansehen?20

Ambedkar als Verfasser der Indischen Konstitution

1947 wurde Ambedkar Justizminister der ersten Regierung des unabhängigen Indiens und war maßgeblich an der Ausarbeitung der Indischen Verfassung beteiligt. Durch seine Konversion zum ‘Neobuddhismus‘ 1956 löste Ambedkar am Ende seines Lebens eine Massenkonversion von sechshundert tausend Dalits zum Neobuddhismus aus.

Neobuddhismus

Ambedkar’s posthum veröffentlichtes Werk ‘The Buddha and His Dhamma‘ löste in etablierten buddhistischen Kreisen Empörung aus. Der Rezensent der buddhistischen Zeitschrift ‘Maha Bodhi‘ kritisierte Ambedkar’s These, wonach der Buddhismus vor allem eine Soziallehre sei.

Vor allem fehlen [in Ambedkars ‘Navayana-Buddhismus] die vier edlen Wahrheiten [Duhkha‘, ‘Samudaya’, ‘Nirodha‘ und ‘Magga], die Ambedkar als fehlgeleitete Interpretationen mönchischer Redakteure der Reden des Buddha auslegte.”21

Ambedkar als Religions-Reformator

Nach Ambedkar’s Verständnis wird menschliches Leid nicht allein durch die eigene Gier und Ignoranz ausgelöst. Wie an der Lage der Dalits sichtbar wird, entsteht es oft durch die Grausamkeit der Anderen. Der in Harvard lehrende Religionswissenschaftler Christopher Queen verteidigt Ambedkar’s Anpassungen des Buddhismus an die Bedürfnisse der konvertierten Dalits. Sie müssen vor dem sozialen Hintergrund gesehen werden, in dem er sich engagierte:

Ambedkar erkannte, dass die Metaphysik von ‘Karma‘ und Wiedergeburt nur das eigene Schuldempfinden [der Dalits] verstärkte, indem sie auf das Fehlverhalten der Leidenden in ihrem früheren Leben anspielte. Zudem wusste er, dass die freiwillige Armut und kontemplative Lebensführung des traditionellen Mönchs kein annehmbares Ideal für Menschen sein könne, die in struktureller Armut gefangen waren.”22

Ambedkar’s Vier Edle Wahrheiten

Ambedkar’s ‘vier edle Wahrheiten‘ waren, so Queen, dagegen:

1.) das Leiden an Ungerechtigkeit und Armut;

2.) die sozialen, politischen und kulturellen Institutionen der Unterdrückung – kollektive Ausdrucksformen von Hass, Gier und Intoleranz,

3.) die europäischen Ideale ‘Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit

4.) der dreifache Weg: Bildung, Mobilisation und Organisation der Dalits.

Der Brahmanismus-Bazillus

Das Schicksal der Dalits verdeutlicht vor allem in abgelegenen Dörfern heute noch, wie vor Jahrhunderten, die Gewaltsamkeit und stigmatisierende Wirkung des Kastensystems. Der Brahmanismus, die Ansteckung des spaltenden ‘Hierarchie-Bazillus‘, wirkt bis in die untersten Kasten, selbst noch zwischen Kastenlosen:

Der exponentielle Zerfall des radioaktiven Atoms der Kaste bedeutet, dass der Brahmanismus nicht nur von den Brahmanen gegen die Kshatriya oder den Vaisha gegen die Shudra oder die Shudra gegen die Unberührbaren praktiziert wird, sondern auch von den Unberührbaren gegen die Unnahbaren, den Unnahbaren gegen das Unsichtbare. Das bedeutet, dass es in jedem Menschen einen Quotienten des Brahmanismus gibt, unabhängig davon, welcher Kaste er angehört. Es ist das ultimative Kontrollmittel, bei dem das Konzept der Verschmutzung und Reinheit und die Ausübung sozialer wie physischer Gewalt […] nicht einfach ausgelagert, sondern in die Vorstellungskraft aller, auch der untersten Hierarchieebene, eingepflanzt wird.”23

Emanzipation oder Flucht?

Der Brahmanismus (oder Hierarchie-)Bazillus macht es unmöglich, eine klare Linie zwischen Unterdrückern und Unterdrückten zu ziehen. Er verunmöglicht auch die Bildung von Solidarität unter den unterdrücktesten Kasten und den Kastenlosen untereinander. Viele Dalits, die durch Bildung einen Aufstieg in die Mittelklasse geschafft haben, wollen nichts mehr mit der Welt der Unberührbaren zu tun haben. Sie versuchen deshalb, ihre Herkunft zu verleugnen.

Negation von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit

Deshalb ist, so Ambedkar, Brahmanismus die Negation von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Arundhati Roy weist in ihrem Vorwort zu ‘Annihilation of Caste‘ auf den Zusammenhang zwischen Kastensystem und Kapitalismus hin. Das Kastensystem sei auch für diejenigen, die ‘dazugehören’ keineswegs ein Relikt der Vergangenheit. Es spielt auch heute noch eine gewaltige Rolle, in welche Kaste man hineingeboren wird:

Extreme Hierarchie

Eine kürzlich vom Forbes-Magazin veröffentlichte Liste von Dollar-Milliardären enthält fünfundfünfzig Inder. […] Selbst unter diesen Dollar-Milliardären ist die Verteilung des Reichtums eine Stufenpyramide, in der der kumulierte Reichtum der Top Ten die fünfundvierzig darunter übertrifft. Sieben dieser Top Ten sind Vaishyas [die Kaste der Händler und Kaufleute], allesamt CEOs von großen Kooperationen mit Geschäftsinteressen in der ganzen Welt […] es gibt keine Dalits auf dieser Liste.”24

Kastensystem und Kapitalismus

Während die Vaishya-Kaste die Indische Wirtschaft beherrscht, dominieren die Brahmanen – drei Prozent der Indischen Bevölkerung die hochrangige Bürokratie (Richter des obersten Gerichtshofes, Botschafter oder hohe Regierungsbeamte), sowie die indische Presse.

Dalits und Adivasis sind auch hier ausgeschlossen. Sie haben keine Presse und sind auch unter den höchsten Richtern eine verschwindende Minderheit von einem Prozent, obwohl sie 25 Prozent der Indischen Bevölkerung ausmachen. Das Kastensystem rechtfertigt darüber hinaus aus der Perspektive der höheren Kasten die rücksichtslose und bedenkenlose Ausbeutung der Kastenlosen.

UN-Konferenz in Durban

2001 fand in Durban, Südafrika eine UN-Konferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Xenophobie‘ und verwandte Formen der Intoleranz (WCAR) statt. Zahlreiche Dalits reisten nach Durban. Sie wollten dafür sorgen, dass bei der UN auch die Kastendiskriminierung als eine extreme Form von Intoleranz behandelt würde. Führende Soziologen in Neu-Delhi lieferten indes Argumente, dass Kasten- und Rassendiskriminierung nicht vergleichbar seien. Paul Diviak, leitendes Mitglied der Nationalen Kampagne für Menschenrechte der Dalits entgegnete dieser Argumentation:

Mit dieser Art der Öffentlichkeit [wie sie die internationale Anerkennung der Kastendiskriminierung bieten würde], mit diesem Zugang zu internationalen Mechanismen würden die Dalits und andere diskriminierte Gruppen im Land schnelleren Zugang zu Gerechtigkeit erhalten und schneller ihre totale Befreiung erreichen. […] Genau das aber möchten viele in unserem Land verhindern. Sie möchten uns weiter unterjochen und als billige Arbeitssklaven halten. Unberührbarkeit ist nicht nur ein soziales Problem, es hat massive ökonomische Auswirkungen. Man kann den Beitrag den die Dalits für die Wirtschaft leisten, einfach leugnen und sie als beliebig verfügbare billige Arbeitskräfte, als Kinderarbeiter, als Schuldknechte und für jede untergeordnete manuelle Tätigkeit halten und ihnen einen Hungerlohn bezahlen.”25

Terror der Unterdrückung

Um diese extrem hierarchischen Strukturen aufrechterhalten zu können, und Rebellionen der Dalits abzuwürgen, wird ein wahrer Terror an Gewalt gegen sie ausgeübt, wenn sie es wagen, diese Hierarchien infrage zu stellen. Aus der Perspektive der Unberührbaren ist, so Ambedkar, der Hinduismus ein regelrechtes Gruselkabinett:

Laut einer Statistik der nationalen Behörde zur Aufzeichnung von Verbrechen wurden allein im Jahr 2012: 2.574 Dalit Frauen vergewaltigt und 651 Dalits ermordet. Ihr Eigentum wird immer noch nicht respektiert. Ganze Familien werden durch Brandstiftung vernichtet, wenn eines ihrer Mitglieder zu auffällig gegen Diskriminierung rebelliert.

SC/ST Act

1989 trat zwar ein sehr umfassendes ‘Gesetz zur Verhinderung von Gewalttaten gegen die registrierten Kasten und registrierten Stämme‘ (kurz SC/ST Act) in Kraft. Doch Polizei und Gerichte blockieren seine Umsetzung. Viele Gewalttaten, die in Zusammenhang mit dem Kastenwesen stehen, werden nicht als solche registriert. Die Täter schwerer Verbrechen wie Vergewaltigung, Mord oder Brandstiftung kommen immer noch häufig mit geringfügigen Strafen oder gar straflos davon, wenn sie an Dalits begangen werden.

Richter und Täter

Dies ist möglich, weil die Täter von Polizei und Richtern gedeckt werden. Diese gehören fast immer höheren Kasten oder genau jener Jati an, die am häufigsten Verbrechen an den Dalits begehen. Oft sind es heute nicht mehr Brahmanen, die die Dalits schikanieren, sondern Mitglieder der untersten Subkasten, der ShudraJatis.

Denn infolge der seit der Unabhängigkeit durchgeführten Landreformen ist das Eigentum an Grund und Boden zumeist von den hohen Kasten an die langjährigen Pächter aus den Shudra-Jatis übergegangen. Die Mehrzahl der Dalits haben von der Landreform jedoch nicht profitiert.

Positive Diskriminierung: Fluch und Segen

Auch wenn in der Indischen Verfassung von Ambedkar festgeschrieben wurde, dass Dalits durch sogenannte positive Diskriminierung staatliche Ämter reserviert werden. Es gelingt auch heute nur Wenigen, der Stigmatisierung der ‘Unberührbarkeit’ zu entkommen.

Wenn die Grundrechte von der Gemeinschaft bekämpft werden, kann kein Gesetz, kein Parlament und keine Justiz sie im wahrsten Sinne des Wortes garantieren.26

Bildung: ein Privileg Einzelner

Wie bei allen Sozialindikatoren liegen die ‘Scheduled Castes und Scheduled Tribes‘ bei der Bildung deutlich unter dem Durchschnitt. Gegenüber 60 Prozent im gesamt-indischen Durchschnitt, betrug zu Beginn des dritten Millenniums die Alphabetisierungsrate bei den Dalit-Männern knapp 50 Prozent; bei Dalit-Frauen weniger als 30 Prozent. […] Armut, die feindselige Atmosphäre, mangelnde Motivation und Ermutigung sowie die Gleichgültigkeit der LehrerInnen an den staatlichen Schulen führt A. Padmabhavan [der in zahlreichen Dalit-Organisationen tätig war] als Gründe dafür an, warum er eigene Schulen für Dalits für unabdingbar hält.”27

In Ausnahmefällen gelingt es Dalits trotzt all dieser widrigen Umstände dennoch, höhere Posten zu erringen. Doch auch hier werden sie oft durch ihre labile soziale Stellung wieder dazu genötigt, ‘schmutzige’ Jobs auszuführen. Sie werden in Jobs gedrängt, mit denen sich niemand ‘beflecken’ möchte. Diese Art der Diskriminierung auf hoher Ebene hat Rana Ayub in ihren Untersuchungen zu den Ereignissen in Gujarat 2002 aufgedeckt.

Dalit-Feminismus

Aus der Perspektive von Dalit-Frauen wird besonders deutlich, wie eng Gender und Kaste verknüpft sind. Auch hier spielt die spaltende Wirkung des ‘BrahmanismusBazillus‘ eine entscheidende Rolle. Einerseits verhindert das tief verwurzelte Kasten-Denken eine Solidarisierung von Frauen unterschiedlicher Kasten. Andererseits erhält sich das Kastensystem gerade durch die bereits verinnerlichte Abscheu höher kastiger Frauen gegen eine Verbindung mit einem niedrig kastigen Mann.

Verinnerlichte Hierarchie

Die höheren Kasten haben nach Ansicht von Uma Chakravarty die das Kastensystem begründende Ideologie derart verinnerlicht, dass sie sich dessen gar nicht mehr bewusst sind. Daher würden sie die Widersprüche in ihrem eigenen Leben nicht wahrnehmen. Denn wie können Leute behaupten, sie hätten das Kastendenken überwunden, solange sie durch die Wahl ihrer EhepartnerInnen die Erhaltung dieses Systems sicherstellen? Soll das System der vielen Jatis überleben, müssen diese Jatis als diskrete Einheiten erhalten bleiben. Dies ist nur durch endogame Eheschließungen […] möglich. […] Weder die Kontrolle über das Land noch die rituelle Qualität, also die Reinheit der Kaste, kann ohne eine strenge Kontrolle der Frauen kontrolliert werden.”28

Bestrafung der Frauen

Oft werden höher kastige Frauen, die diese Schranken von der eigenen Familie verbannt. Sie werden von Mitgliedern ihrer Jati bestraft. Es kam aus diesem Grund auch schon häufig zu sogenannten Rachemorden. Höher kastige Männer hingegen missbrauchen kastenlose Frauen häufig sexuell oder gehen Affären mit ihnen ein und lassen sie dann fallen. Aber auch Eheschließungen zwischen höher kastigen Männern und niedrig kastigen Frauen sind durchaus üblich.

Die Vergewaltigung von Dalit-Frauen gilt darüber hinaus sehr oft als ‘Bestrafung’ für Ehemänner. Diese Bestrafung trifft sie dann, wenn sie es wagen, sich gegen Diskriminierungen aufgrund ihres Status zu wehren oder darauf pochen, dass geltende Gesetze eingehalten werden.

Devadasi

Der Kult der ‘Joginis‘ (nicht zu verwechseln mit den ‘Yoginis‘) ist ein weiteres Beispiel dafür, wie eng Sexualität und Kaste verknüpft sind. Im Südindischen Staat Andhra Pradesh wurden und werden Dalit-Mädchen immer noch der Göttin ‘Yellamma‘ geweiht. Dies geschieht entweder, wenn das Geld für die Mitgift fehlt, oder um die Göttin (für die Geburt eines Sohnes) ‘gnädig zu stimmen’.

In ihrer Rolle als ‘Tempeldienerinnen’ wurden unberührbare Frauen als aktives weibliches Prinzip im sakralen Raum-Zeit-Gefüge anerkannt. Ihre ‘Shakti‘ [weibliche Energie] wurde nicht nur in diversen Ritualen, sondern auch in der sexuellen Vereinigung mit Priestern und Angehörigen der oberen Kasten nutzbar gemacht. So lässt sich der Glaube nachweisen, ‘dass ein Mann aus einer hohen Hindu Kaste durch die Begegnung mit einer sakralen Prostituierten mit göttlicher Energie aufgeladen würde.'”29

Durch die Zeremonie der ‘Verheiratung’ mit der Gottheit erwerben die Mädchen selbst göttliche Kräfte, geraten in Trance und können hellsehen. Sie werden deshalb trotzt ihres Unberührbaren-Status von allen Kasten verehrt. Ihr Segen ist bei Hochzeiten von Angehörigen hoher Kasten unentbehrlich. Auch für Ernte-Zeremonien wurden und werden sie gerufen.

Jogati

Bei solchen Ritualen werden die sonst strikten Reinheit-regeln des Kastensystems durchbrochen. Bei Hauseinweihungen sollte die
Anwesenheit der ‘Jogini‘ oder ‘Jogati‘ ‘alles Unheil absorbieren‘, sie werden wie Göttinnen verehrt und bewirtet. Außerhalb der Rituale werden sie jedoch wie gewöhnliche Unberührbare behandelt. Sie müssen sich ihren Lohn auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie erbetteln.

Heilige Prostitution?

Eine Jogini darf traditionell nicht heiraten und muss jedem Mann, der mit ihr schlafen möchte, zur Verfügung stehen. Nach den Worten älterer Joginis kamen Männer [früher allerdings nur dann] zu ihnen, wenn es Probleme in ihrer Familie gab oder die andere Sorgen hatten. Sie wollten die göttliche Kraft der Jogini nutzen. Heute dagegen arbeiten die meisten Joginis als gewöhnliche Prostituierte. Viele landen in den Bordellen der Rotlichtbezirke in Millionenstädten wie Bombay. […] Warum sind es […] fast nur Mädchen […] die aus Dalit-Familien kommen? Warum haben Angehörige der oberen Kasten ein derart großes Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Systems?30

1988 wurde ein Gesetz gegen diesen Brauch der ‘Devadasi‘ (Tempeldienerinnen) oder ‘Nautch-Girls‘ (tanzenden Mädchen) verabschiedet. Es werden immer noch Mädchen zu ‘Joginis‘ geweiht (im Jahr 2000 waren es ca. 40.000) und es gibt auch noch solche, die an ihre besondere Rolle glauben.

Alte Bräuche unter Denkmalschutz?

Doch die Historikerin Priyadarshini Vijaisri, die den Kult der Devadasi in Indien erforscht hat, meint, es wäre zu vereinfachend, gesellschaftlich und ideologisch tief verwurzelte Bräuche einfach, als Verirrung abzuhandeln.

Allerdings greift auch eine konservative Kulturphilosophie zu kurz, die alle Bräuche unter ‘Denkmalschutz’ stellt. Auch, wenn diese schon lange ihren gesellschaftlichen Sinn verändert haben. Außerdem ist dieser Brauch, und die ausbeuterischen Formen, die er in Zeiten des globalisierten Kapitalismus angenommen hat – als Mittel zur ‘Requirierung’ von jungen Prostituierten für Mega-Städte – keineswegs so alt.

Lebendige Kultur ist Verhandlung

Auch Kulte können und müssten von Zeit zu Zeit neu ‘verhandelt‘ werden. Verbote greifen im sakralen Bereich jedoch meist zu kurz. Manchmal verhindern gerade jene Neuverhandlung. Sie fixieren den Kult in jener Ausformung, die für die Ausführenden nur noch Nachteile, aber keine Privilegien mehr bietet. Von einem ‘vedischen‘ sakralen Brauch, kann, so Gayatri Chakravorty Spivak, jedenfalls nicht die Rede sein.

Devadasi in den Schriften?

In den ältesten Büchern der Tanztheorie […] ‘Natya Shastra‘ und ‘Abhinaya Darpana‘ sind keine direkten Hinweise auf den Tempeltanz bekannt. […] Ein Jahrtausend später wird das ‘Natya Shastra’ als heiliges Wissen oder ‘Veda’ in der ‘Sangita Ratnakara‘ legitimiert.

Lasya‘ oder körperliche Liebe wird nicht in die Theogonie zurückgeführt. […] Es ist nicht überraschend, dass ‘Sangita Ratnakara’ auch eine Liste von sozialen, eher als zwischen-menschlichen Anlässen gibt, bei denen Tanz angebracht ist: Krönungen, große Feste, Reisen, Entschleierung göttlicher Bilder, nach periodischen Festen, Hochzeiten, Treffen mit der Geliebten, Einreisen in die Stadt, die Geburt eines Sohnes. […]

Immer noch keine Tempeltänzerinnen. ‘Lasya’ kann immer noch nur Tanz bedeuten, der zum zeremoniellen Leben der Könige und wohlhabenden Haushalte gehört. Die erste Erwähnung des Tempeltanzes findet sich in der mittelalterlichen Geschichten-Sammlung ‘Kathasaritsagara‘ (‘Das Meer der Geschichten’). […] Wer weiß genau, wie sich Lasya in die Kunst der Lust verwandelt? […] Worte ändern ihre Bedeutung Stück für Stück, hier Überschuss, dort Mangel.”31

Praktische Hilfe statt Verbote

Was den heutigen Devadasis wirklich helfen würde, wären Änderungen der Gesetzeslage, die praktische Aspekte ihres Lebens betreffen. So muss eine Frau, um ihre Kinder in die Schule schicken zu können, den Namen des Vaters angeben. Dies ist gerade den Devadasis meist nicht möglich. Und so bleiben auch die Kinder der Devadasis meist wieder im Kreislauf von Armut und Analphabetentum gefangen.

‘Dalit-Frauen’ als eigene Kategorie des Feminismus

Die in einem Forschungszentrum für Frauenstudien in Hyderabad tätige Dalit-Feministin Swathy Margaret verdeutlicht die Notwendigkeit, Dalit-Feminismus als spezifische Form des Feminismus zu behandeln.

Dalit-Frauen haben gemeinsame Anliegen mit Dalit-Männern, ebenso teilen sie gewisse Anliegen mit Frauen aus anderen Kasten und Klassen. Dalit-Frauen haben von beiden Bewegungen profitiert und gelernt. Und doch sind Dalit-Frauen eine eigene Kategorie. […] Sowohl bei führenden Dalit-Ideologen wie auch bei prominenten Feministinnen stellt Swathy Margaret ein mangelndes Verständnis für die Kategorie ‘Dalit-Frau’ fest. So verfechten Angehörige beider Gruppen die These, dass letztlich alle Frauen Dalits wären. [Etwa da sie im Hinduismus während der Menstruation als unrein gelten]. […] Die Dinge so zu betrachten bedeutet grundlegende Aspekte der Unberührbarkeit wegzuwischen. ‘Sie ignorieren, die Tatsache, dass der soziale Status von Frauen aus den oberen Kasten nie mit dem von Dalit-Männern oder Dalit-Frauen vergleichbar gewesen ist‘.”32

Selbstbestimmung der Dalit Frauen

Dalit-Frauen müssten, so Swathy Margareth zunächst einmal selbst ihre Anliegen formulieren. Sie sind keine homogene Gruppe, sondern gehören diversen Subkasten und unterschiedlichen Klassen an. Doch es gibt viele Gemeinsamkeiten, und es wäre zu ihrem großen Vorteil, wenn sich Dalit-Frauen zusammenschließen
würden, um gemeinsame Programme durchzuführen.

Die Dalit-Männer sind Sklaven, und wir sind Sklavinnen der Sklaven […]. Wir haben wahrlich andere Probleme als die Mainstream-Frauen. Aber die Dalit-Bewegung will die Gender Frage nicht sehen, und die Frauenbewegung will die Kastenfrage nicht sehen.”33

Brahmanischer Feminismus?

Für Sharmila Rege, Vorstand des Institutes für Soziologie an der Universität in Pune, ist ein Feminismus, der das Kastensystem nicht infrage stellt, ein ‘brahmanischer Feminismus’. Die ‘Entdeckung’ des ‘DalitFeminismus‘ habe deshalb weitreichende Konsequenzen für die Soziologie und andere wissenschaftliche Disziplinen:

Die gesamte Geschichte der indischen Frauenbewegung [muss] von der Perspektive der Dalit-Frauen neu betrachtet werden.”34

‘Die Frauen sind der Schlüssel zum Kastensystem’

Eine der neuen Forschungsfragen würde lauten:

Wie würde eine nicht-brahmanische Perspektive auf die indische Gesellschaft aussehen?

Schon Ambedkar hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen:

Die Frauen sind der Schlüssel zum Kastensystem. Die Unterjochung der Frauen und der unteren Kasten ist Teil ein- und desselben Systems.’

Deshalb begehen Dalit-Frauen am 25. Dezember, an jenem Tag, als Ambedkar symbolisch ein Exemplar der ‘Manu-Smriti‘ (der ‘Gesetze des Manu‘) verbrannte, den ‘Tag der Befreiung der indischen Frau‘ – als klare Absage an das Kastensystem.

Konversionen

Der gewaltlose Widerstand der Kastenlosen gegen ihre Stigmatisierung besteht unter anderem in ihrer Konversion zu einer egalitären Religion.

Keine andere Religion der Welt rechtfertigt offen und theoretisch Diskriminierung. Wenn also eine Religion auf der sozialen Hierarchie und der Unberührbarkeit beruht, wie sollen dann die Dalits je Würde und Respekt erlangen? Für sie gibt es keinen anderen Ausweg, als sich von ihr loszusagen. […] Konversionen helfen [den Dalits] dabei, sich aus der mentalen Sklaverei zu befreien, das Vertrauen zu erwerben, dass die Kraft ihrer zwei Hände und ihres Verstandes sie befreien kann. Damit wirkt sich der Religionsübertritt dann auch im ökonomischen, sozialen und politischen Bereich aus.”35

Konversion ist in Indien kein neues Phänomen. Um dem Stigma der Unberührbarkeit zu entkommen, konvertieren Unberührbare schon seit Jahrhunderten zu anderen Religionen. Millionen sind während der Moguln-Herrschaft freiwillig zum Islam konvertiert, wo sie gleiche Rechte bekamen. Später sind Millionen Kastenlose zu Sikhs und Christen geworden. Gegenwärtig konvertieren Dalits immer häufiger wieder zum Islam statt zum Buddhismus oder zum Christentum.

Illusionärer Ausweg?

Doch auch dieser Ausweg erweist sich oft als illusionär:

Obwohl ihre Schriften dies nicht gutheißen, praktizieren die indischen Elite-Muslime, Sikhs und Christen alle eine Kastendiskriminierung. Pakistan, Bangladesch und Nepal haben alle ihre eigenen Gemeinschaften von unantastbaren Fegern. Das gilt auch für Kaschmir.36

Dass Konvertierungen, die Probleme der Dalits auch nicht lösen können, betont Chandrabhan Prasad, ein atheistischer Intellektueller, der der Dalit-Mittelkasse in Delhi angehört:

Die Gesellschaft behandelt Konvertiten weiterhin als Unberührbare […]. Buddhisten werden Neobuddhisten genannt, was so viel bedeutet wie Dalit-Buddhisten. […] Der Masse der Dalits vorzumachen, dass Konversionen die Lösung ihrer Probleme wären, ist eine riesige Ablenkung. Was sie benötigen ist Bildung und Zugang zu Landbesitz. Darum muss es gehen im heutigen Ringen der Dalits.”37

Gleichstellung von konvertierten Dalits?

In den christlichen Kirchen haben die konvertierten Dalits in den vergangenen Jahren begonnen, ihre Gleichstellung einzufordern. Wenn Dalits zum Christentum oder Islam konvertieren, verlieren sie alle, ihnen von der Verfassung zugestandenen Rechte. Denn diese haben sie als eingetragene ‘Sceduled Castes‘ nur als ‘Hindus‘. Das Anrecht auf staatliche Fördermaßnahmen wie Quoten bei den Studienplätzen und auf Jobs im Staatsdienst.

Dalit-Christen haben immer wieder versucht, unter die registrierten Kasten aufgenommen zu werden. Doch die hindunationalistische, Indische Volkspartei (BJP) war prinzipiell gegen jede Ausweitung der Quoten auf Dalit-Konvertiten zum Christentum und erst recht zum Islam. Die hindunationalistische
BJP Regierung versucht vielmehr mit allen Mitteln Konvertierungen zu verhindern. Außerdem versuchen sie rechtlich und durch Schikanen gegen Misch-Ehen zwischen Hindus und Muslimen vorzugehen.

Anti-Konversions-Gesetze

Hindu-Nationalisten sprechen in Bezug auf gemischten Beziehungen zwischen muslimischen Männern und hinduistischen Frauen von ‘Love-Jihad‘. Nach dem ‘Gujarat Freedom of Religion Act‘ (entgegen der im Namen enthaltenen Suggestion, ein Anti-Konversions-Gesetz), das Narendra Modi 2003 in Gujarat einführen wollte, sollte jeder Hindu, der konvertieren möchte, zuerst die Erlaubnis beim Distrikt-Magistrat einholen. Das Gesetz konnte jedoch nicht eingeführt werden, da es verfassungswidrig war.

Auch die Angst der Kasten-Hindus vor Konvertierung der Kastenlosen ist nicht neu. Im Punjab sank zwischen 1881 und 1941 die Hindu-Bevölkerung durch Konversion der niederen Kasten und Kastenlosen zum Islam, Sikhismus oder Christentum von 43,8 Prozent auf 29,1 Prozent. Hindu-Reformbewegungen wie ‘Brahmo-Samajoder ‘Arya Samajentstanden hauptsächlich aus diesem Grund. Es waren diese Bewegungen, die erst den Begriff ‘Hinduismus‘ aufgebracht haben.

‘Enemies’

Swami Vivekananda: “Jeder, der die Hindu-Gemeinschaft verlässt, ist nicht nur ein Mann weniger, sondern ein Feind mehr.38

Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Hindu-Nationalistische Reformbewegung ‘Arya Samaj‘ formierte, entstand deshalb auch die ‘Shuddhikaran‘ (Re-Konversion oder ‘Reinigungs’- Bewegung). Hindus, die zu einer anderen Religion konvertiert waren, konnten wieder zum Hinduismus zurückkehren – selbstverständlich nur zurück zu ihrer alten (Nicht-)Kaste.

Ghar whapsi

Gegenwärtig sind es extrem rechte Organisationen wie die RSS / ‘Rashtriya Swayamsevak Sangh‘ und die ‘Shiv Sena‘, die in den Slums der Großstädte aktiv Dalits ‘zurückholen’ und Adivasis in die Falle der Unberührbarkeit locken.

In den Wäldern Zentralindiens, wo ein Krieg der Unternehmen um Mineralien wütet, führen die ‘Vishwa Hindu Parishad‘ (VHP) und die ‘Bajrang Dal‘ (beide Organisationen, die lose mit der RSS verbunden sind) Massenkonversionsprogramme durch, die als ‘ghar whapsi‘ – ‘Rückkehr in die Heimat’ – bezeichnet werden und in denen Adivasi bewegt werden, zum Hinduismus ‘zurück’ zukehren.”39

Die (meist noch basisdemokratisch organisierten, im Wald lebenden) Adivasi müssen deshalb re-konvertiert werden, weil der Hinduismus per se keine missionarische Religion ist.

Die Bhagavad Gita als Kasten-Manifest?

All jene, die trotzt ihrer Zweifel an der ethischen Vertretbarkeit des Kasten-Systems, an dieser Tradition nicht rütteln wollen, beziehen sich dabei bevorzugt auf die Bhagavad Gita. Die Bhagavad Gita ist jener Teil der großen indischen Erzählung der Mahabharata, in der die Schlacht zwischen den beiden Geschlechtern der Pandavas und der Kauravas geschildert wird.

Arjuna zögert, sein Heer in einer großen Schlacht gegen ein Heer anzuführen, zu dem auch Angehörige seiner Familie und sein Meister gehören. Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, mahnt Arjuna jedoch, seinem Dharma (seiner Pflicht und Bestimmung), das heißt hier: seiner Angehörigkeit zur Kriegerkaste, zu folgen und nicht seinem Mitgefühl oder der Ehrfurcht vor seinem Meister.

Pflichtmoral

Die meisten Interpreten der Bhagavad Gita übernahmen in ihren Interpretationen die deontologischen Argumente Krishnas. ‘Deontologie‘ bezeichnet eine Pflicht-Ethik, die den moralischen Status von Handlungen nicht anhand ihrer Konsequenzen bestimmt. Arjunas Argumente, die seine Sensibilität für die unmittelbaren Folgen seiner Handlungen offenbaren, werden hingegen von sehr wenigen Kommentatoren der Bhagavad Gita unterstützt. Amartya Sen gehört zu den Letzteren:

Rechtfertigung von Gewalt

Aber war Arjuna wirklich im Irrtum? Warum sollten wir nur ‘vorwärtsfahren’ und nicht auch ‘wohl fahren‘ wollen? [Sen beruft sich hier auf eine dichterische Auslegung der ‘Gita‘ von T. S. Eliot: ‘and do not think of the fruits of action / fare forward. Not fare well, / but fare forward, voyagers‘]. Kann die Überzeugung, dass man verpflichtet sei, ohne Rücksicht auf die Folgen für eine gerechte Sache zu kämpfen, stärker sein als die Gründe dafür, dass man nicht Menschen töten will, für die man vielleicht sogar Zuneigung empfindet?

Die Schlacht von Kurukshetra würde das Leben der Menschen im Land ändern – dies wird im [letzten Teil des ‘Mahabharata’-]Epos deutlich sichtbar -, und um entscheiden zu können, was zu tun ist, braucht man eine umfassende und kritische Evaluierung. Eine schlichte, aus folgen-unabhängigen Argumenten abgeleitete Antwort, die sich nur auf Arjunas Pflicht zu kämpfen – komme was da mag – beruft und alle anderen Erwägungen verwirft, ist ungenügend.”40

Arjunas Partei ergreifen

Wie Amartya Sen ist auch Bhimrao Ramji Ambedkar einer der Wenigen, die Arjunas‘ Partei ergreifen. In seinem unvollendeten Werk ‘Revolution and Counter-Revolution in Ancient India‘ (Kapitel 9, dritter Teil, ‘Essays on the Bhagavad Gita: Philosophic Defense of Counter Revolution: Krishna and His Gita‘) wies Ambedkar darauf hin, dass die Bhagavad Gita kein Evangelium sei, wie die Bibel oder der Koran. Vielmehr sei sie schlicht eine philosophische Rechtfertigung einiger religiöser Dogmen.

Religiöse Rechtfertigung des Krieges

Die erste Instanz, auf die man beim Lesen der Bhagavad Gita stößt, ist die Rechtfertigung des Krieges. Arjuna hatte sich gegen den Krieg ausgesprochen, gegen das Töten von Menschen um des Eigentums willen. Krishna bietet eine philosophische Verteidigung des Krieges und des Tötens.41

Diese religiöse Rechtfertigung des Krieges läuft darauf hinaus, dass Körper und Geist nicht ein und dasselbe seien. Der Körper sei vergänglich, deshalb mache es für einen weisen Menschen keinen Unterschied, ob er eines natürlichen oder eines gewaltsamen Todes stirbt. Denn er/sie identifiziert sich nicht mit dem vergänglichen Körper, sondern mit dem Geist.

Wenn Krishna als Anwalt auftreten würde, der für einen Klienten debattiert, der wegen Mordes angeklagt ist, und sich auf die von ihm in der Bhagavad Gita dargelegte Verteidigung berufen würde, besteht nicht der geringste Zweifel, dass er in die Irrenanstalt geschickt würde.42

Von Gott geschaffen?

Das zweite Dogma, das in der Bhagavad Gita verteidigt wird, ist ‘Chaturvarnya‘ (Sanskrit: die vier Kasten; ‘Chatur‘: Vier; ‘Varna‘: Typ, Ordnung, Farbe, Klasse). Nach Aussage der Bhagavat Gita sind die vier Kasten von Gott geschaffen und deshalb unantastbar. Die Gita offeriere, so Ambedkar, eine philosophische Grundlage für die Theorie, dass die Kasten auf vererbten Charaktereigenschaften der Menschen beruhen.

Gegenreformation

Buddha predigte Ahimsa und deshalb war er auch für die Abschaffung der Kasten. Ohne die mythische Rechtfertigung durch die Erzählung der Bhagavad Gita wäre, so Ambedkar, die hinduistische Gegenrevolution gegen das Prinzip der Gewaltlosigkeit und gegen die buddhistische Abschaffung der Kasten nicht gelungen.

Wir interpretieren Texte nicht dem zufolge, was sie tatsächlich sind, sondern ihrer äußerlichen Hülle folgend […]. Eine geringfügige Veränderung in der Präsentation eines Textes, und schon ist die uns einzig verfügbare radikale Entmystifizierung […] in Gang gesetzt, doch niemand ist sich über diesen Sachverhalt im Klaren.”43

Dekonstruktion eines Mythos

Ambedkar konnte den Mythos der Bhagavad Gita entlarven, da er selbst zu der durch den Mythos ausgeschlossenen Minderheit gehörte. Er konnte deshalb die Motive der hinter dem Mythos steckenden Erzählung erkennen, sowie die Gründe, warum die Botschaft als Mythos verpackt werden musste.

Es ist sinnlos, den Menschen zu sagen, dass die Shastras nicht das sagen, was man gemeinhin glaubt […]. Entscheidend ist, wie die Shastras verstanden wurden.”44

Beliebtheit der ‘Gita’ im Osten wie im Westen

Nahezu alle bekannten spirituellen Führer und Gurus der Moderne haben eine Interpretation der Bhagavad Gita verfasst:

Mohandas Karamchand Gandhi, Sri Aurobindo Ghose, Swami Vivekananda, Sarvepalli Radhakrishnan, Paramahansa Yogananda aber auch einige europäische Intellektuelle und Philosophen .

Als im Jahr 1785 die erste Übersetzung der Bhagavad Gita in Europa erschien, war dies wie ein Paukenschlag, schreibt Michael von Brück in seinem Kommentar zu der von ihm herausgegebenen Bhagavad Gita. Dieser Paukenschlag sorgte insbesondere in England, Frankreich und Deutschland für Widerhall.”45

Friedrich W. Schelling, Johann Gottfried Herder, Arthur Schopenhauer, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Nietzsche, sowie Wilhelm von Humboldt, Novalis, Jean Paul, Heinrich Heine, Thomas Stearns Eliot und der Anthroposoph Rudolf Steiner haben entweder eigene Interpretationen der Bhagavad Gita verfasst oder waren von der ‘Neuentdeckung’ begeistert und ließen sich davon inspirieren.

Unter den deutschen Idealisten war Georg Wilhelm Friedrich Hegel der einzige, der, so Karl Baier in seinem Buch ‘Yoga, auf dem Weg nach Westen‘, ein Gespür für die sozial-philosophische Dimension der ‘Gita‘ hatte, “die das gottgefällige Handeln [‘Karma-Yoga‘] fraglos mit dem Verhaltenskodex einer bestimmten Ständeordnung identifizierte.”46

Helena Blavatsky

Die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft Helena Petrovna Blavatsky berief sich ebenfalls implizit auf die Bhagavad Gita. Ihre Körper-feindliche Philosophie konzentrierte sich einseitig auf die geistige Form des Yoga (Raja-Yoga), während sie Hatha-Yoga als ‘hinderlich und gefährlich‘ verteufelte.

Die Theosophen stellten, so Karl Baier, das Kastenwesen dezidiert in einen rassistischen, antisemitischen Kontext:

Das jüdische Volk wird als von den indischen Chandalas abkünftig beschrieben, die nach dem ‘Gesetzbuch des Manu‘ die typischen Unberührbaren sind, also die sozial geächtete, unterste Gesellschaftsschicht repräsentieren. Es ist für Blavatsky ein aus Rassenmischungen hervorgegangenes Bastard-Volk, das unrein und verachtet außerhalb der Kastenordnung der Arier steht. Über Lanz von Liebenfels und Guido von Lists ‘Ariosophie‘ haben diese Ideen indirekt auf den Antisemitismus des Dritten Reichs gewirkt.”47

Heinrich Himmler

Franz Hartmann, ein Schüler von Blavatsky veröffentlichte 1899 eine Ausgabe der Bhagavad Gita. Ein weiterer Bewunderer der Bhagavad Gita war Heinrich Himmler:

Es ist keineswegs ein Zufall und auch keine Nebensächlichkeit, dass der Reichsführer-SS Heinrich Himmler ausgerechnet in der Bhagavad Gita jenen Zuspruch und jene Sätze und Anschauungen fand, die den von ihm angeordneten und organisierten Massen- und Völkermord rechtfertigte und ihn bzw. sein Gewissen rechtfertigte. Weder in den für den Yoga maßgeblichen Schriften des Vedanta, also in den ‘Upanishaden’, noch im Yoga-Sutra des Patañjali und auch nicht in der ‘Hatha-Pradipika‘ finden sich Textstellen, in denen Gewalt gerechtfertigt wird.”48

Blaupause für den totalitären Terror?

Heinrich Himmler betrachtete den Epos als Blaupause für schonungslosen, kaltblütig berechnenden Terror. Er identifizierte sich und die SS, so der Historiker Mathias Tietke, mit der Kshatriya– (Krieger) Kaste und sah deren ‘Dharma‘ (deren höchste Pflicht) in der Ausrottung aller nicht-arischen Rassen im deutschen Reich.

In einer Rede, die Himmler im Posener Rathaus vor neunzig hohen SS-Offizieren hielt, fanden sich deutliche inhaltliche Bezüge zu Grundaussagen der Bhagavad Gita:

Was die Beendigung und das Gewinnen des Krieges anlangt, so müssen wir insgesamt eine Erkenntnis in uns aufnehmen: Ein Krieg muss geistig, willensmäßig, seelisch gewonnen werden, dann ist die körperliche, leibliche, materielle Gewinnung nur eine Folgeerscheinung […] Wenn wir seelisch, willensmäßig und geistig in Ordnung sind, dann werden wir diesen Krieg nach den Gesetzen der Geschichte und der Natur gewinnen, weil wir die höheren menschlichen Werte, die höheren und kräftigeren Werte in der Natur verkörpern.”49

Sakrale Krieger

Der gesamte Abschnitt Himmlers Anfeuerungs-Rede vor der SS ist von den in der Bhagavad Gita gepriesenen Werten geprägt. Die in der Bhagavad Gita von Krishna vertretene Philosophie des sakralen Kriegers und die metaphysische Rechtfertigung des Krieges als ‘Dharma‘ war für Himmler und die SS, so Mathias Tietke, eine ‘elegische Rechtfertigung‘ der bereits begangenen und noch geplante Massaker.

Der sakrale Krieger erscheint als eine Manifestation des Göttlichen, als metaphysische Kraft der Zerstörung des Endlichen. Er zieht diese Kraft aktiv auf sich, verklärt und befreit sich in ihr, indem er die Fesseln des Menschlichen zerbricht.”50

Autorin: Eva Pudill

>> LITERATUR

Geschätzte Lesezeit: 40 Minuten

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