Über den Umgang mit Schatten und Dämonen
Verborgen
In die Verborgenheit des Schattens verbannen wir jene Aspekte, die wir an uns hassen und die deshalb auf keinen Fall ans Tageslicht kommen sollen. Treten beschattete Aspekte dennoch ans Licht der Öffentlichkeit, verlieren wir das Gesicht. Wir reagieren mit Scham und Angst oder gehen zum Gegenangriff über, indem wir die Scham mit Ärger und Wut und eventuell mit einer Schatten-Verschreibung abwehren. Das heißt wir deuten an oder behaupten, der Aufdecker unserer Schattenseite hätte selbst etwas zu verbergen.
Als Schatten bezeichnete Carl Gustav Jung genau jene fremden, verdrängten Persönlichkeitsanteile, die im Ressentiment auf die Sündenböcke projiziert werden.
Fremd ist uns nicht einfach, was wir noch nicht kennen, fremd ist uns etwas, das uns unbekannt und oft auch unheimlich ist, uns aber in einer unabweisbaren Art angeht. Dies betrifft auch den Schatten.1
Die helle Seite der Persönlichkeit steht für jenes Selbstbild das man anderen zeigt. Dieses idealisierte Selbstbild bezeichnet C. G. Jung als Persona (griechisch: die Maske), die für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Die Persona schützt die Intimität des Einzelnen, aber auch die anderen Menschen vor zu viel intimen Details und plötzlichen Stimmungsschwankungen. Alles was wir (noch) nicht akzeptieren, kann hingegen zum Schatten werden.
Institutioneller Rahmen
Der Schatten kann zum Vorschein kommen, wenn völlige Anonymität gegeben ist [wie in diversen Internetforen, aber auch in Gefängnissen oder Lagern oder Heimen]. Der Individualitätsverlust kann zusätzlich dadurch verstärkt werden, dass keine Strafen für Fehlverhalten zu erwarten sind, […] Wenn von Autoritätspersonen zu unmoralischem Verhalten aufgefordert und außerdem noch Straffreiheit zugesichert wird, kommt der Schatten sehr schnell zum Vorschein. 2
Es werde Licht?
Oft kompensieren wir einen Aspekt, den wir verleugnen mit dem Gegenteil. Wir schaffen eine Persona, die uns selbst und anderen beweisen soll, dass wir genau so nicht sind. So beherrscht dieser Aspekt unser Leben, alles dreht sich nur noch darum, ihn zu verbergen. Wenn uns in der Vergangenheit oft von anderen vorgeworfen wurde, wir seien leichtfertig, verfallen wir bei dem Versuch, diese Tendenz zu verbergen in das entgegengesetzte Extrem. Wir bürden uns zu viele Aufgaben, zu viel Verantwortung auf, bis wir schließlich darunter zusammenbrechen.
Bedenken wir die Metapher von Licht und Schatten, dann wird deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, mit Schatten umzugehen, dass auf jeden Fall nicht einfach Licht werden kann, wo Schatten war, denn jede neue Lichtquelle wirft wieder einen neuen Schatten. Es wird in der Auseinandersetzung mit dem Schatten darum gehen, grundsätzlich eine Schatten-Akzeptanz zu entwickeln, zu verstehen, dass das Helle und das Dunkle zusammenspielen. 3
Wenn wir eine gefühlte Emotion unterdrücken, dann unterdrücken wir deshalb auch meist ihren polaren Gegensatz. Ein Schatten-Aspekt, den wir zu akzeptieren gelernt haben, muss daher in unser Leben integriert werden, damit nicht wieder neue Schatten auf unsere Beziehungen fallen. Außerdem sollten wir uns, wenn wir uns mit einer unserer Schattenseiten konfrontieren wollen, erst unsere Stärken vergegenwärtigen.
Es geht auch darum, einen Teil von uns, der diese Schattenkonfrontation nicht nötig hat, zurückzulassen. Das heißt, es geht darum, […] Vorkehrungen zu treffen, dass wir nicht für immer im Schattenreich verbleiben. 4
Die eigenen Schattenseiten erkennen
Doch wie erkennen wir, dass wir einen bestimmten Aspekt von uns ablehnen? Wenn eine bestimmte Eigenschaft anderer heftige emotionale Reaktionen in uns hervorruft, können wir davon ausgehen, dass wir diese Eigenschaft auch an uns selbst ablehnen.
Wenn wir uns bewusst in einer Situation wiederfinden, in der wir einen Schatten-Aspekt ausagieren, kann Mitgefühl mit diesem Aspekt unseres Selbsts bewirken, dass wir diesen Anteil nicht wieder verdrängen, sondern ihn ohne Bewertung annehmen.
Oft bereitet uns ein Aspekt, den wir an uns nicht annehmen können, deshalb Probleme, weil er unkontrolliert und in den unpassendsten Situationen zum Ausbruch kommt. Vielleicht kann dieselbe, bis dato verschattete Eigenschaft, die uns schon so oft in Schwierigkeiten gebracht hat, in bestimmten Situationen auch nützlich sein.
Verleugnung und Projektion
Die hinterhältigen Attacken von Gefühlen, die anerkannt werden wollen, behindern uns oft genau in jenen Bereichen, die uns am wichtigsten sind. Wenn wir einen Schatten-Aspekt anerkennen, oder neu interpretieren können, stellen wir fest, dass dieser sich plötzlich besser dosieren und in angemessener Weise ausdrücken lässt.
Die Geschenke auch der verhasstesten Eigenschaften zu entdecken ist ein kreativer Prozess, für den wir die tiefe Sehnsucht brauchen, zuzuhören und zu lernen, sowie den Willen, überkommene Urteile und Glaubenshaltungen loszulassen. 5
Je mehr die ungeliebten Schatten-Aspekte hingegen verleugnet werden, desto deutlicher treten sie bei anderen hervor:
Wenn wir uns von unseren Emotionen oder unannehmbaren Teilen unserer Persönlichkeit bedrängt fühlen, tritt ein Schutzmechanismus in Aktion, der dazu führt, dass wir diese Eigenschaften anderen Objekten oder Menschen zuschreiben. […] Was immer wir also von uns selbst nicht angenommen haben, das projizieren wir auf andere. 6
Verhext
Nehmen wir unsere eigenen Schatten-Aspekte an anderen wahr, reagieren wir auf diese Menschen oft mit besonders starker Abneigung, die wir uns nicht immer erklären können. Dennoch können wir dem anderen aber auch nicht aus dem Weg gehen, da er oder sie eine unheimliche Faszination auf uns ausübt.
Diese Faszination, die der Schatten als das Fremde in uns bewirkt, verführt oder zwingt uns sogar, die Grenzen des Gewohnten, Heimlichen zu überschreiten. Das lateinische fascinare bedeutet verzaubern, verhexen.
Die Faszination holt uns also hinaus in das Fremde unserer Persönlichkeit. Sie hat Wandlung der Identität zum Ziel […] Die Faszination hilft uns, die Angst vor dem Fremden, die immer in einem gewissen Grad vorhanden ist, zu überwinden, indem wir diese [Angst] zunächst überspringen. 7
Dieses Fremde in uns kann eine (immer wieder) verdrängte Emotion sein, aber auch ein noch nicht entfaltetes Potenzial. Wenn wir das schattenhaft Fremde immer wieder ängstlich abwehren, können wir diese in uns schlummernden Potenziale vielleicht niemals aufdecken.
Angst vor dem Fremden
Wird die Angst vor dem Fremden stärker als die Faszination, stellt es uns zu sehr infrage, so wird es zum Bösen. Wenn wir unsere eigenen Schatten auf andere projizieren, können wir uns nicht mehr konstruktiv mit unseren Problemen auseinandersetzen. Denn die Projektion verlagert diese Aspekte ins Außen, wo wir sie nicht so leicht beeinflussen können. Dies führt wiederum zu dem, für das Ressentiment so charakteristischen Gefühl der Ohnmacht. Außerdem können wir die Schatten-Träger (diejenigen, auf die wir unseren Schatten projizieren) nicht mehr in ihrer Einzigartigkeit wahrnehmen. Wir können in ihnen nur noch jenen Aspekt wahrnehmen, der uns stört. Die Projektion macht uns voreingenommen, der Schatten-Träger wird abgewertet.
Aneignung der Schatten?
Carl Gustav Jung ging davon aus, dass Schatten integriert werden können, und der Mensch dadurch der Ganzheit wieder näher kommen könne.
Der Schatten muss in die Verantwortung genommen werden. Akzeptanz des Schattens macht uns selbstsicherer, authentischer […] allerdings auch gewöhnlicher. 8
Ein Schatten-Aspekt ist dann angeeignet, wenn wir diesen Aspekt nicht mehr ausschließlich negativ bewerten. Wenn wir anerkennen, dass er zu uns gehört. Mit jedem angeeigneten, bejahten Schatten-Aspekt werden wir weniger empfindlich. Unser Selbstwertgefühl steht nicht mehr so stark zur Disposition, wie dies bei der Entstehung eines Ressentiments der Fall ist. Werden Schatten-Aspekte anerkannt und nicht mehr projiziert, dann werden jene Kräfte frei, die zuvor in der Verdrängung gebunden waren.
Kontaktstellen
Kritik trifft uns dann am stärksten, wenn sie sich gerade auf einen unserer Schatten-Aspekte bezieht. Wenn wir die Schatten anerkennen und als uns zugehörige Aspekte annehmen, kann uns Kritik, die diesen anerkannten Schatten-Aspekt betrifft, nicht mehr so tief treffen. Es ist, wie wenn elektrische Kontakte ihre Spannung verlieren.
Jeder Kontakt steht für eine andere Qualität. Durch die Kontakte, die wir anerkennen und angenommen haben, strömt keine Elektrizität, sie sind sicher. Aber die Qualitäten, die wir an uns selbst ablehnen, die wir uns noch nicht angeeignet haben, besitzen eine Ladung. Wenn also andere Menschen diese Qualitäten ausleben, entsteht sofort eine elektrische Spannung; sie stecken ihren Stecker in unseren Kontakt. 9
Je mehr Kontakte unter Strom stehen, desto anfälliger werden wir für Zorn und Ressentiment. Wenn die verdrängten Schatten-Anteile im Unbewussten zu einem Komplex verschmelzen, werden die einzelnen Schatten-Aspekte noch schwerer wahrnehmbar. Die Projektion des Schatten-Komplexes verwandelt die Umwelt, je nachdem welchen Schatten-Aspekt wir projizieren.
Verdrängen wir einen Machtschatten, sind wir plötzlich umgeben von Menschen, die uns übermächtig vorkommen. […] Indem wir den Schatten projizieren, erfahren wir uns als Opfer des Schattenträgers […] und können unser Leben nicht mehr autonom gestalten. Die Opferrolle erzeugt zudem viel Angst und verhindert fruchtbare Auseinandersetzungen.10
Außerdem werden wir immer wieder mit jenen Aspekten konfrontiert, die wir an uns ablehnen. Wir ziehen beständig Menschen an, die diesen Aspekt ausleben. Bevor man keine Schatten-Akzeptanz entwickelt hat, kann man nicht erkennen, was man mit der Person gemeinsam hat, die man so sehr verachtet und dass man diese Person nicht ohne Grund trifft.
Idealisierung
Wenn Potenziale nicht ausgelebt werden, projizieren wir sie oft auf Menschen, die genau diese potenziellen Eigenschaften ausleben. Auch diese idealisierenden Projektionen müssen zurückgenommen werden, damit wir uns diese positiven Aspekte wieder aneignen können. Was uns daran hindert, unsere Schatten-Projektionen zu erkennen, ist das Ego. Es ist die falsche Identifikation und das Festhalten an unserem überkommenen Selbstbild.
Das Ego ist also die Abwesenheit der wahren Erkenntnis, wer wir wirklich sind, und das daraus resultierende Ergebnis: ein verhängnisvolles Anklammern, koste es, was es wolle, an ein […], behelfsmäßiges Selbstbild, ein Scharlatan-selbst. 11
Das, was wir fürchten, tritt in unser Leben. Wenn die eigenen Schatten unbewusst auf andere projiziert werden, scheinen sie von außen auf uns zu zukommen wie unabhängige Wesenheiten – wie Dämonen.
Sokrates Daimon
Der griechische Ausdruck Daimon hatte im Gegensatz zu dem Begriff Dämon, der aus ihm entstanden ist, eine positive Konnotation. Sokrates‘ Daimon leitete ihn wie eine intuitive innere Stimme, die ihm mitteilte, was er unterlassen solle. Solange wir uns Gefühlen oder gefühlten Emotionen nicht verschließen, leiten sie uns wie seelische Navigatoren.
Von dieser anregenden oder aufrüttelnden Inspiration, können Emotionen jedoch zu beängstigenden, dämonischen Mächten werden. Dies passiert, wenn wir ihren Hinweisen nicht folgen und sie ignorieren, wenn die Quelle des Unbehagens nicht erforscht wird und die negativen Gefühle wegen ihrer beunruhigenden Auswirkungen zurückgedrängt werden.
Ohnmachtsgefühle
Weg-geschoben werden Gefühle vor allem dann, wenn ein Eindruck in der Vergangenheit so traumatisch war, dass das Denken nicht mehr in der Lage ist, mit dieser Erschütterung zurechtzukommen. Ein solches Ereignis wird vom Denken nicht mehr als Anregung und Inspiration empfunden. Es löst vielmehr nur noch Ohnmachtsgefühle aus.
Dies kann dazu führen, dass jedes Gefühl, das fortan das Denken bedrängt, und eventuell in Zusammenhang mit dem traumatischen Ereignis steht, als Bedrohung empfunden wird. So verliert der Traumatisierte seinen navigierenden Daimon und die zurückgedrängten, negativen Gefühle wachsen zu bedrohlichen Mächten an.
Diese dämonisch angewachsenen Gefühle werden in ihrer Störung der Denkprozesse immer insistierender. Sie verbinden sich mit weiteren Emotionen, die durch sie ausgelöst und ebenfalls verdrängt werden. Die Offenheit für Neues geht in dieser selbst-bezogenen Verstrickung meist völlig verloren. Die Dämonen steuern fortan alle unsere Handlungen und schränken unsere Kreativität ein, neue Lösungen für alte oder neue Probleme zu finden.
Bannen durch Benennen
Was in Bezug auf die Wirksamkeit des Schreibens als Bewältigungsstrategie im Umgang mit Traumata gilt, gilt auch für den Umgang mit negativen Gefühlen generell:
Solange innere Dämonen wie Ängste, Scham, Abhängigkeit, Schuldgefühle, Unsicherheit, Wut, Trauer, Unzufriedenheit, innere Leere, Unruhe, Ungeduld – nicht gebannt und beim Namen genannt werden, beeinflussen sie unser Denken und unsere Kommunikation unbemerkt. Die neurotische Selbstbezogenheit, die immer die Begleiterscheinung von verdrängten Emotionen oder Ressentiments ist, beschränkt unsere Perspektive und unseren Möglichkeitssinn.
Die inneren Dämonen können uns so stark beeinträchtigen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, uns zu konzentrieren. Die Dämonen können sich in ihrem Versuch, uns etwas mitzuteilen, das wir nicht hören wollen, so insistierend bemerkbar machen, dass sie uns vollkommen beherrschen. Spannungen, die durch die aufgestauten Affekte entstehen, manifestieren sich im Körper.
Je mehr wir diese ins Dämonische gesteigerten Gefühle bekämpfen, desto größer und mächtiger wird ihr Schatten. Je mehr wir sie verdrängen und verleugnen, desto intensiver beeinflussen sie unser Denken und Handeln aus dem Verborgenen. Bis wir sie so weit abspalten, dass wir das Gefühl haben, ihnen im Außen zu begegnen. Sie erscheinen dann personifiziert im Anderen. Die inneren Dämonen zu erkennen ist deshalb essenziell wenn es darum geht, andere nicht zu dämonisieren.
Kurz vor der Erleuchtung
In vielen Legenden über Yogis, Erleuchtete oder Mystiker begegnet man dem Motiv der Heimsuchung durch Dämonen. Diese werden besonders insistierend wenn sich Yogis in die Einsamkeit der Wüste oder in den Wald, die Berge oder in eine Höhle zurückziehen.
Selbst Gautama Buddha wurde – so die Legende – kurz vor der Erleuchtung von seiner Dämonin Mara heimgesucht. Ganz auf sich gestellt, ohne die Möglichkeit sich abzulenken, werden Suchende unmittelbar vor ihrem Ziel mit den eigenen, inneren Dämonen konfrontiert.
In Patañjalis Yoga-Sutra werden diese inneren Dämonen Kleshas genannt. Sie sind die letzten und nicht selten die stärksten Hindernisse auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zur Erleuchtung. Zwar führt die Befreiung von diesen Dämonen alleine noch nicht zur Erleuchtung, doch sie ist deren emotionale und mentale Voraussetzung.
Konfrontation
Im antiken Griechenland gab es in Lebadaia einen Höhlenkult, der darin bestand, dass sich der Initiand in eine enge Kammer der Höhle zurückzog, um dort ein paar Stunden bis Tage zu verbringen. Bevor er im Schoss der Erde wiedergeboren wurde, wurde der Betreffende gesalbt, wie es sonst nur mit Sterbenden üblich war. Er trank vom Wasser des Vergessens, der Lethe und der Erinnerung, Mnemosyne. Sodass er sich später erinnern könne, was ihm in der Höhle widerfahren ist, und vergessen, was seine Kapazität übersteigt.
Auf diese Weise vorbereitet, stieg er [der Initiand des Orakel des Trophonius] alsbald auf einer schmalen Leiter in den Erdspalt hinab, um zu sehen und zu hören. Pausanias, der das Orakel selber besucht hat, erzählt, dass solche Leute für gewöhnlich nach ihrer Rückkehr aus der Höhle von Schrecken erfüllt waren und weder sich selbst noch ihre Umgebung erkannten, […] jene, die sich in den Spalt gewagt hatten, nannte man in der Antike Männer ohne Lachen. 12
Das Ego wehrt sich heftig gegen seine Auflösung. Es bietet alles auf, um den nach Selbsterkenntnis suchenden oder Meditierenden stärker denn je in seine Fallstricke zu locken. Vermutlich waren die Männer ohne Lachen nicht vorbereitet, in der Stille auf eine solche Intensität der Emotionen zu stoßen. Sie versuchten gegen die inneren Dämonen anzukämpfen, wodurch diese noch stärker wurden und sie schließlich überwältigten. Nicht alle Dämonen sind schreckenerregend oder überhaupt als solche zu erkennen.
Verführerische Dämonen
Einer der verführerischsten Dämonen, der dem spirituell Suchenden begegnen kann, ist der Dämon der spirituellen Hochmut. Vor dieser Falle warnt auch Patañjali im dritten Kapitel der Yoga-Sutras Vibhuti Pada.
Wenn der Meditierende übernatürliche mentale oder psychische Kräfte (Siddhis) erlangt, wird er oder sie meist bewundert und verehrt. Deshalb besteht auf dieser Stufe des spirituellen Erwachens die Gefahr, dass der Stolz zum vorherrschenden Gefühl wird. Der Yogi fällt dann wieder in die Selbstbezogenheit zurück, die er durch seine spirituellen Übungen zum Teil schon überwunden hat.
Der fatale Irrtum aller, die Opfer dieser Täuschung [der Selbstüberschätzung] werden ist, dass sie die Fähigkeit und die Macht des transpersonalen oder Höheren Selbst ihrem persönlichen Ich zuschreiben. 13
Dieser Dämon kann Gurus bisweilen auch dazu verleiten, ihre Macht zu missbrauchen. Erst wenn die höchste Form des Samadhi – Samprajñata Samadhi (Samadhi ohne Samen) – erreicht ist, kann der Yogi nicht mehr zurückfallen. Jede Spur von Ego oder Karma ist dann, so Patañjali, ausgelöscht, alle Samen sind verbrannt.
Anmaßung
Solange diese Stufe nicht erreicht ist, ist der Yogi nicht vor einem Rückfall sicher. Er oder Sie muss auf der Hut sein, sich mit erreichten Zuständen zufriedenzugeben oder sich mit ihnen zu identifizieren.
Obwohl wahre Erleuchtung existiert, existiert sie doch völlig losgelöst vom Kontext des Egos und der Arena der Vermutungen. Der erleuchtete Zustand maßt sich nicht an, erleuchtet zu sein, das Ego maßt sich an, erleuchtet zu sein. Und da sich die meisten Menschen mit ihrem Ego identifizieren, maßen sich auch die Individuen an, erleuchtet zu sein. Das Problem, die eigenen Erleuchtung fälschlich als gegeben hinzunehmen, besteht darin, dass sie sich negativ auf den Streben der Menschen nach spiritueller Verwirklichung auswirkt. Es ist ein Hindernis für den Wachstumsprozess. 14
Auflösen des Widerstandes
Als Machig Labdrön, eine große tibetische Yogini des elften Jahrhunderts, als buddhistische Nonne initiiert wurde, begab sie sich freiwillig an einen Ort, der dafür bekannt war, von mächtigen Nagas beherrscht zu werden. Als Nagas wurden in Tibet zu Machig’s Zeit sehr gefürchtete Wassergeister bezeichnet. Sie meditierte auf einem Baum über dem Teich – dem Naga-Reich – und provozierte damit die Geister.
Als Machig ein Riesenheer von magischen Geistern auf sich zukommen sah, verwandelte sie sogleich ihren Körper in ein Nahrungsopfer für die Geister, und diese konnten sie nicht vernichten, weil sie Ego-los war. Die Angriffslust der Nagas verpuffte, und […] sie unterwarfen sich ihr, und gelobten, sie zu beschützen, und sicherten ihr zu, ihr und allen die ihrer Lehre [dem Chöd] folgten, zu dienen. 15
Dämonen füttern
Tsültrim Allione ließ sich 19-jährig in Nepal zur buddhistischen Nonne initiieren. Aus der tibetisch-buddhistischen Chöd Zeremonie hat Allione eine Technik entwickelt, mit der sich auch postmoderne Yogis mit ihren Dämonen anfreunden können. Wie Machig Labdrön bietet man bei dieser Technik das Ego einem Dämonen als Nahrung an, womit er sich auflösen kann. Es reicht manchmal schon, verdrängten Gefühlen wieder Aufmerksamkeit zu schenken, um ihnen ihre dämonische Dimension zu nehmen und sie wieder zu leitenden und inspirierenden, inneren Stimmen werden zu lassen.
Dieser freundliche, zuwendende Umgang mit unangenehmen, konfliktreichen Affekten bewirkt oft erstaunliche Transformationen. Dies trifft nicht nur auf diejenigen zu, die sich mit ihren Dämonen auseinandersetzen, sondern auch auf jene Menschen, mit denen sie sich gerade in Konflikt befinden. Oft beginnt diese Wandlung mit einer fast unmerklichen, graduellen Verschiebung der Wahrnehmung. Es drängt sich das Gefühl auf, bis jetzt etwas Wichtiges übersehen zu haben: etwas, das vorher verborgen war, obwohl es doch offenbar und direkt vor unseren Augen lag.
Transformation von Beziehungen
Es eröffnen sich neue Möglichkeiten, die wir zuvor (verblendet durch die Verdrängung des Gefühls) einfach nicht wahrnehmen konnten. Durch diese neue mentale Einstellung kommunizieren und handeln wir anders. Dies führt wiederum dazu, dass sich unsere Beziehungen transformieren oder sich plötzlich vollkommen anders anfühlen. Was uns früher zur Weißglut gebracht hat, lässt uns jetzt nur noch kalt, durch die Kontakte fließt kein Strom mehr. Wir können plötzlich gar nicht mehr verstehen, wie es uns je so aufregen konnte.
Die Dämonen oder Schatten verwandeln sich, wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, in positive, helfende Kräfte. Die Energie, die im Kampf gegen die Dämonen, verausgabt wurde, wird nun frei. Wir erfahren, warum wir bis jetzt so heftig auf bestimmte Sätze oder Handlungsweisen anderer reagiert haben.
Da die unterschiedlichen, negativen Affekte meist eng miteinander verstrickt sind, entdecken wir, wenn ein Dämonen satt ist, meist gleich den oder die nächsten. Außerdem werden die Zusammenhänge zwischen diesen verdrängten, negativen Affekten deutlich.
Autorin: Eva Pudill
Geschätzte Lesezeit: 15 Minuten